Der Mangel an Fachkräften ist zu einem beherrschenden Thema der Tagespolitik geworden und wird es wahrscheinlich auch für sehr lange Zeit bleiben. Die Zahl der Erwerbstätigen hat im Jahr 2022 mit 46 Millionen einen historischen Höchststand erreicht. Schon jetzt werben sich Unternehmen und Branchen gegenseitig die Arbeitskräfte ab. Neben den medizinischen und Pflegeberufen hat die Not jetzt auch Handwerksunternehmen erreicht, die Aufträge wegen fehlender Fachkräfte ablehnen, Schulverwaltungen können Lehrer*innenstellen nicht mehr vollständig besetzen, in den Kitas fehlen Erzieher*innen und Bahn- und Verkehrsbetriebe begründen Zugausfälle mit Personalmangel.
Das Problem wird sich in den kommenden Jahren deutlich verschärfen, denn künftig scheiden mehr Menschen altersbedingt aus dem Arbeitsmarkt aus als junge nachrücken. Überraschen kann das niemand, denn die Bevölkerungszahlen sind leichter als andere sozioökonomische Entwicklungen prognostizierbar. Gravierende Auswirkungen auf die wirtschaftlichen Perspektiven und auf zahleiche Politikfelder sind zu erwarten. Politik, Medien und Öffentlichkeit ließen sich zu lange von den zuletzt immer noch leicht steigenden Erwerbspersonenzahlen täuschen.
Die Bundesregierung hat jetzt mit einer Fachkräftestrategie reagiert, die am 12. Oktober 2022 vom Kabinett beschlossen wurde.[1] Ob die darin enthaltenen Maßnahmen aber das Problem wirklich lösen werden, darf mit guten Gründen bezweifelt werden. In diesem Beitrag werden zunächst zwei Illusionen hinterfragt, denen die politischen Entscheider*innen vielfach unterliegen. Danach werden zwei wichtige Ansatzpunkte zur Bewältigung des Fachkräfteproblems dargestellt und mit konkreten Handlungsvorschlägen versehen, die in der Tagespolitik bereits angekommen sind: eine weitere Erhöhung der Erwerbsbeteiligung und die gezielte Förderung der Zuwanderung von Fach- und Arbeitskräften aus dem Ausland. Anschließend werden zwei Ansatzpunkte zur Problemlösung diskutiert, die politisch noch viel zu wenig beachtet werden und auch in der Fachkräftestrategie der Bundesregierung unterbelichtet bleiben, aber mindestens ebenso wichtig sind: höhere Dienstleistungsimporte in Mangelbereichen als Ergänzung zur Zuwanderung von Fachkräften und entschlossene Maßnahmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität in Verbindung mit höheren Löhnen.
Zwei große Illusionen in der Fachkräftedebatte: Kannibalisierung der Branchen und Qualifizierung
In der öffentlichen Debatte über die Fachkräfteproblematik sind immer wieder zwei Illusionen zu beobachten. Die erste ist die Hoffnung vieler Branchen und ihrer Verbände, mit verstärkten Werbeaktionen eine Beschäftigung in ihren Unternehmen und Berufen attraktiver zu machen und die Studien- und Ausbildungskapazitäten zu Lasten anderer zu erhöhen. Bei einer begrenzten und künftig sinkenden Zahl an verfügbaren Erwerbspersonen können solche Aktionen nur bewirken, dass sich die Unternehmen und Branche die knappen Arbeitskräfte und Berufseinsteiger*innen gegenseitig abwerben. Was wäre aber für die Gesamtproblematik gewonnen, wenn es den Pflege- und Sozialeinrichtungen gelänge, junge Menschen, die sich sonst für eine handwerkliche Ausbildung entschieden hätten, für ihre Berufe umzustimmen? Oder umgekehrt das Handwerk Auszubildende gewinnen würde, die dafür auf einen Sozial- oder Pflegeberuf verzichten? Gleiches gilt für den akademischen Bereich. Wenn es einen Mangel an Ärzt*innen gibt, dann kann man dieses spezifische Problem zwar lösen, indem man die Studienplätze in der Medizin erhöht. Diese können aber nur von Studierenden besetzt werden, die sonst zum Beispiel ein Lehramts- oder Informatikstudium aufgenommen hätten, so dass das Gesundheitswesen sein Fachkräfteproblem auf Kosten der Schulen oder IT-Unternehmen löst.
Dieses Kannibalisierungsverhalten ist in zahlreichen Äußerungen und Aktivitäten von Branchenverbänden und Berufsorganisationen erkennbar und in Teilen auch verständlich. Als Grundlage für politische Entscheidungen kann es jedoch nicht dienen, da es das grundsätzliche Problem der Verknappung verfügbarer Arbeitskräfte verkennt. Wenn die Verteilmasse kleiner wird oder zumindest nicht wächst, dann muss man den Engpass als Ganzes sehen und eine branchen- und berufsübergreifende Strategie entwickeln. Die Bundesregierung vermeidet in ihrer Fachkräftestrategie richtigerweise diese Falle.
Eine andere Illusion ist aber schon schwerer aufzulösen, nämlich die Erwartung, man könne den Fachkräftemangel durch isolierte Qualifizierungsmaßnahmen bewältigen. Aus- und Weiterbildung haben herausragende Bedeutung für die Unternehmen und die Beschäftigten und sie müssen auch ein wichtiger Bestandteil einer Fachkräftestrategie sein, aber sie können nie allein das Problem lösen. Der Fachkräftemangel ist zunächst einmal ein quantitatives Problem. Es gibt einfach zu wenig Arbeitskräfte auf allen Qualifikationsstufen. Eine Qualifizierungsmaßnahme führt isoliert noch nicht dazu, dass mehr Arbeitsstunden verfügbar werden, sondern sie steigert die Arbeitsqualität und meist auch die Arbeitsproduktivität und kann daher nur in Verbindung mit anderen Lösungsansätzen wirken.
Wenn hier also Skepsis gegenüber der starken Fokussierung der Fachkräftedebatte auf Qualifizierungsmaßnahmen geäußert wird, dann hat das nichts mit einer Geringschätzung von Qualifizierungsmaßnahmen zu tun, sondern zielt nur darauf ab, das quantitative Problem, das sich aus der demografischen Entwicklung ergibt, als die eigentliche Herausforderung zu sehen, für die Aus- und Weiterbildung ein wichtiges begleitendes Element sein muss.
Zwei bereits erkannte und zwei zu wenig beachtete Ansatzpunkte zur Lösung des Fachkräftemangels
Wenn man das Fachkräfteproblem im Kern als einen quantitativen Engpass auf dem Arbeitsmarkt versteht, dann bieten sich zunächst zwei Lösungsansätze an, die in der politischen Diskussion auch schon angekommen sind. Der erste besteht in der weiteren Steigerung der Erwerbsquote der künftig schrumpfenden Zahl von Menschen im erwerbsfähigen Alter und der Anhebung der Arbeitsstunden von Teilzeitbeschäftigten, die unfreiwillig weniger arbeiten als sie wünschen oder zu leisten bereit sind. Dazu gehört natürlich auch die Mobilisierung und Integration möglichst aller Arbeitslosen in den Arbeitsmarkt, einschließlich der Langzeitarbeitslosen und der „Stillen Reserve“, und in begrenztem Umfang auch die Anhebung der Lebensarbeitszeit. Oft wird dabei übersehen, dass die Menschen nach wie vor durch eine Vielzahl von Anreizen von einer Aufnahme einer Erwerbstätigkeit oder längeren Arbeitszeiten abgehalten oder dass gar neue Maßnahmen diskutiert werden, die diese einschränken.
Der zweite Ansatzpunkt ist die vermehrte Zuwanderung von Menschen aus dem Ausland in den deutschen Arbeitsmarkt. Dazu gehört die Nutzung der erweiterten Möglichkeiten, die das am 01. März 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz geschaffen hat, weitere gesetzliche und praktische Erleichterungen für den Zuzug ausländischer Fachkräfte in den deutschen Arbeitsmarkt und die pragmatische und unideologische Integration der schon jetzt in Deutschland lebenden Ausländer*innen, die aus unterschiedlichen Gründen an einer Erwerbstätigkeit gehindert werden.
Kaum diskutiert wird bisher, wie sich die seit vielen Jahren bestehenden hohen deutschen Exportüberschüsse auf den Arbeits- und Fachkräftebedarf auswirken und welche Chancen höhere Importe von Gütern und insbesondere Dienstleistungen zur Bewältigung des Fachkräfteproblems bieten. Ausländische Arbeitskräfte müssen ihren Wohnsitz nicht immer nach Deutschland verlegen, um Dienstleistungen zu erbringen, die hier wegen fehlender Fachkräfte nicht erledigt werden können. Die Digitalisierung erleichtert den Import vieler Dienstleistungen, zum Beispiel im IT-Bereich. Unter anderem Baudienstleistungen könnten auch vermehrt an ausländische Anbieter vergeben werden, die mit ihren eigenen Beschäftigten auf Basis des Arbeitnehmer-Entsendegesetzes Aufträge in Deutschland ausführen. Das deutsche Fachkräfteproblem steht in einem kausalen Zusammenhang mit dem anhaltend hohen Handelsbilanzüberschuss. Dessen Verringerung kann auch einen Beitrag zur Bewältigung des Fachkräftemangels leisten.
Wenn der Mangel an verfügbarer Arbeitskraft weder durch eine Anhebung der Erwerbstätigkeit, noch durch Zuwanderung oder vermehrte Importe ganz beseitigt werden kann, und davon muss man nach Lage der Dinge ausgehen, dann bleibt als vierte Alternative noch die Steigerung der Arbeitsproduktivität in Verbindung mit höheren Löhnen. Eine angestrebte Leistungsmenge lässt sich auch durch einen höheren Output pro Arbeitsstunde oder pro Arbeitskraft erzielen. Wachstum und Wohlstand sind letztlich das Ergebnis kontinuierlicher Produktivitätssteigerungen, die sich in den vergangenen Jahren jedoch in Deutschland und in vielen anderen entwickelten Ländern deutlich abgeschwächt haben. Digitalisierung, Automatisierung und Qualifizierung lassen sich dafür nutzen. Höhere Löhne als Folge der Knappheit an Fach- und Arbeitskräften können Produktivitätssteigerungen erzwingen und helfen mit, den Fachkräftemangel zu bewältigen.
Erster Ansatzpunkt: Ausschöpfung weiterer Spielräume zur Steigerung der Erwerbsquote
Das Jahr 2022 wird voraussichtlich als das Jahr mit dem höchsten Beschäftigtenstand in die deutsche Geschichte eingehen. In 2022 meldete das Statistische Bundesamt 46,0 Millionen Erwerbstätige, die als Selbständige oder abhängig Beschäftigte einer Erwerbstätigkeit nachgingen.[2] Hinzu kommen rd. 2,6 Millionen registrierte Arbeitslose, so dass in diesem Jahr insgesamt 48,6 Millionen Erwerbspersonen dem Arbeitsmarkt zur Verfügung standen. Die Zahl der geleisteten Arbeitsstunden belief sich im Jahr 2021 auf 60,3 Milliarden, was einen leichten Rückgang gegenüber dem historischen Höchststand mit 62,1 Milliarden im Jahr 2019 bedeutet. Diese Zahlen lassen sich wegen des bevorstehenden Renteneintritts der geburtenstarken Boomer-Jahrgänge und deutlich niedrigerer Zahlen an Berufseinsteiger*innen nicht auf dem gleichen Niveau halten, auch dann nicht, wenn alle denkbaren Maßnahmen zur Steigerung der Erwerbstätigkeit ausgeschöpft werden.
Das Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung IAB hat berechnet, dass die Zahl der Erwerbspersonen bei gleichbleibendem Erwerbsverhalten und ohne Migration bis 2035 um 7,2 Millionen und bis 2060 um weitere 8,9 Millionen, also um insgesamt 16,1 Millionen sinken wird.[3] Dies wäre ein Rückgang um rd. 15 % bis 2035 und um 34 %, also um ein Drittel, bis 2060. Durch Änderungen im Erwerbsverhalten ließe sich der Rückgang dieser Studie zufolge bis 2035 auf 4,5 Millionen begrenzen. Danach wären die verhaltensbedingten Kompensationsmöglichkeiten aber ausgeschöpft, so dass bis 2060 ohne weitere Maßnahmen wie insbesondere eine deutliche Steigerung der Zuwanderung ein Rückgang der Erwerbspersonenzahl um 13,7 Millionen unvermeidbar wäre.
Quelle: IAB Kurzbericht 25/2021
Schon in den vergangenen Jahren ist die Erwerbsquote stark gestiegen, was letztlich dazu führte, dass der Fachkräftemangel nicht schon wesentlich früher spürbar wurde. Wenn dieses Potenzial aber weitgehend ausgeschöpft ist, wird ein weiterer Anstieg immer schwieriger. Noch unausgeschöpfte Potenziale bestehen praktisch nur noch bei den Frauen. Nach einer Auswertung des Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Instituts (WSI) der Hans-Böckler-Stiftung sind rd. 80 % aller Männer im Alter von 15- bis 65 Jahren und rd. 72 % der Frauen in derselben Altersgruppe erwerbstätig.[4] Im Jahr 2000 lag der Anteil der erwerbstätigen Frauen noch bei 59 % und der Männer bei 73 %. Der Abstand zwischen den Männern und den Frauen ist also schon merklich geschrumpft. Unterstellt man, dass sich die Erwerbstätigkeit der Männer nicht mehr nennenswert weiter steigern lässt (die nicht erwerbstätigen Männer sind neben den Erwerbslosen insbesondere Auszubildende und Studierende sowie Erwerbsunfähige), dann kann man diesen Wert auch als Höchstmarke für die Frauenerwerbstätigkeit sehen. Bei einer vollständigen Angleichung des Erwerbsverhaltens der Frauen an dasjenige der Männer stünden dem Arbeitsmarkt derzeit ca. zwei Millionen zusätzliche Arbeitskräfte zur Verfügung. Betroffen sind vor allem ausländische Frauen, deren Erwerbsverhalten noch weit stärker als bei deutschen Frauen von einem traditionellen Familien- und Frauenbild geprägt wird.
Quelle: Berechnung des WSI
Die schon zitierte IAB-Studie ist aber vorsichtiger und hält einen Anstieg bei den deutschen Frauen um nur 640.000 bis 2035 und bei den ausländischen um 380.000, insgesamt also etwas mehr als eine Million, für realistisch.[5] Dieser Beitrag schwächt sich bis zum Jahr 2060 auf insgesamt 720.000 ab, weil die Altersjahrgänge der hierfür in Frage kommenden Frauen als Ausgangsbasis kleiner werden.
Die weitere Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit ist also ein wichtiger Ansatzpunkt zur Bewältigung des Fachkräfteengpasses. Dies erfordert jedoch nicht nur eine Verhaltensänderung der noch nicht erwerbstätigen Frauen, sondern auch die Rahmenbedingungen für die Kinderbetreuung in den Kitas und im Primarschulbereich müssen durch gesicherte Ganztags- und Ferienbetreuung deutlich verbessert werden. Vor allem Ausländerinnen müssen für eine höhere Erwerbstätigkeit gewonnen werden.
Das Arbeitsvolumen könnte außerdem durch höhere Stundenzahlen für Teilzeitbeschäftigte steigen, unter denen die Frauen ebenso überproportional vertreten sind. Nach einer anderen Studie des IAB[6] geben Frauen weit häufiger als Männer an, dass Kinderbetreuung und Wahrnehmung häuslicher und familiärer Pflichten für die Reduzierung der Arbeitszeit ausschlaggebend sind. Dies geschieht vielfach unfreiwillig, weil die Kinderbetreuung und sonstige familiäre Pflichten wie die Pflege von Angehörigen oft mit einer Vollzeitstelle nicht zu vereinbaren sind. Eine Verbesserung der Kinderbetreuung kann daher nicht nur die Erwerbsquote der Frauen anheben, sondern auch ihre Bereitschaft und Befähigung zu einer Vollzeitbeschäftigung.
Ein weiterer Hebel zur Abmilderung des Fachkräfteproblems besteht grundsätzlich in einer längeren Erwerbstätigkeit älterer Menschen. Die Anhebung des Renteneintrittsalters auf 67 hat schon in den vergangenen Jahren zu einem Anstieg der Erwerbstätigkeit in dieser Altersgruppe geführt und wird sich noch bis zur vollen Umsetzung dieser Maßnahme für alle Altersjahrgänge bis 2030 fortsetzen. Das IAB hält einen Anstieg der Erwerbspersonenzahl in der Altersgruppe bis 67 von bis zu 2,4 Millionen im Jahr 2035 für maximal möglich. Bis 2060 wird er sich auf 1,78 Millionen abschwächen, weil die betroffenen Alterskohorten dann kleiner werden.[7] Ob die von Arbeitgeberverbänden und vereinzelten Expert*innen und Politiker*innen geforderte weitere Anhebung der Altersgrenze auf 70 Jahre zur Rentensicherung durchsetzbar sein wird, muss man zum jetzigen Zeitpunkt als skeptisch betrachten. Würde sie umgesetzt werden, dann könnte dies auch zur Minderung des Fachkräfteproblems in begrenztem Umfang beitragen.
Entscheidend für eine auch von älteren Menschen gewollte und mitgetragene längere Arbeitszeit, ob bis 67 oder noch länger, sind die für sie geltenden Arbeitsbedingungen. Viele Menschen sind in diesem Alter wegen körperlicher oder psychischer Belastungen nicht oder nur noch eingeschränkt in der Lage, ihrer bisherigen Erwerbstätigkeit nachzugehen. Für sie ist es wichtig, eine längere Arbeit attraktiv zu machen. Dazu gehören ein deutlich verbesserter Gesundheitsschutz und das Angebot von Tätigkeiten, bei denen es mehr auf Erfahrung ankommt und die mit geringeren körperlichen Belastungen verbunden sind. Wenn sich längere Lebensarbeitszeiten durchsetzen sollen, dann ist eine zweite Berufsfindungsphase mit neu zu entwickelnden Aus- und Weiterbildungsangeboten für über 50-jährige Erwerbstätige hilfreich, die eine Umorientierung auf altersgerechte Tätigkeiten fördert. Der von Bundesarbeitsminister Heil vorgeschlagene Rechtsanspruch auf berufliche Weiterbildung von bis zu einem Jahr, die von der Bundesagentur für Arbeit finanziert werden soll, wäre ein guter erster Schritt dazu, wenn er sich denn politisch durchsetzen ließe. Dies könnte in begrenztem Maße auch das Fachkräfteproblem abschwächen.
Die genannten Vorschläge zur Anhebung der Erwerbsquote setzen bestimmte Rahmenbedingungen voraus und werden durch teils kontraproduktive Anreize erschwert. Eine weitere Anhebung der Frauenerwerbstätigkeit über das schon jetzt erreichte Niveau hinaus erfordert zwingend eine verlässliche Ganztagsbetreuung zwischen 8 und 18 Uhr sowohl in den Kitas, als auch im Primarschulbereich. Die hierfür zuständigen Fachressorts stehen damit auch in der Verantwortung für die Lösung der Fachkräfteproblematik. Dies ist keine selbstverständliche Forderung, denn diese lassen sich nicht gerne für wirtschafts- und arbeitsmarktpolitische Ziele vereinnahmen.
Dabei stehen die Schulen und Kitas selbst vor einem gewaltigen Fachkräfteproblem. Mit einer verlässlichen Ganztagsbetreuung haben sie ein wichtiges Instrument in der Hand, um ihren eigenen Bedarf an Lehrer*innen und Erzieher*innen zu befriedigen.
Kontraproduktive Anreize für die Steigerung der Frauenerwerbstätigkeit und insbesondere die Anhebung der Stundenzahlen von Teilzeitbeschäftigten sind in der Steuerpolitik zu finden. Das Ehegattensplitting mindert den finanziellen Anreiz für die/den weniger verdienenden Partner*in, länger zu arbeiten und das Bruttogehalt aufzubessern. Wer also das Ehegattensplitting weiter verteidigt, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, damit auch der Beseitigung des Fachkräftemangels im Wege zu stehen.
Und schließlich tauchen im politischen Raum immer wieder Vorschläge auf, die den Fachkräftemangel verstärken würden und diesen Zusammenhang übersehen. Ein Beispiel aus letzter Zeit ist die Einführung eines Pflichtjahres für alle jungen Menschen, die u.a. der Bundespräsident und der Bundesparteitag der CDU gefordert haben. Würden junge Menschen nach ihrer Schulentlassung ein Jahr lang einen sozialen oder sonstigen Dienst in einem öffentlichen Interesse leisten müssen, könnten sie ihre Ausbildung oder ihr Studium auch erst entsprechend später beginnen und sie stünden dann auch erst ein Jahr später als Fachkraft dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Unterstellt man, dass von den ca. 800.000 Angehörigen eines Altersjahrgangs 500.000 nur wegen der Leistungspflicht ein solches Pflichtjahr ableisten (und die übrigen 300.000 ohnehin auf freiwilliger Basis zum Beispiel Wehrdienst oder ein Soziales Jahr leisten), dann entzieht dies dem Arbeitsmarkt dauerhaft eine halbe Million Fachkräfte. Es ist erstaunlich, dass dieser Nebeneffekt eines Pflichtjahrs bisher keine öffentliche Aufmerksamkeit gefunden hat.
Zweiter Ansatzpunkt: Vermehrte Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland
Mit den dargestellten Maßnahmen zur Steigerung der Erwerbsquote vor allem bei Frauen und in den älteren Jahrgängen wäre es nach der IAB-Analyse möglich, den Rückgang des Erwerbspersonenpotenzials von 7,2 auf 4,5 Millionen bis 2035 und von 16,1 auf 13,7 Millionen bis 2060 zu verringern. Dem Arbeitsmarkt stünden also auch unter diesen günstigen Umständen in gut einem Jahrzehnt fast 10 % weniger Arbeitskräfte zur Verfügung, im Jahr 2060 fast 30 %. Wenn sonst nichts unternommen wird, droht dem deutschen Arbeitsmarkt kurz- bis mittelfristig ein gravierendes Problem, das auf noch längere Sicht dramatische Ausmaße einnehmen wird. Es führt daher kein Weg daran vorbei, alle Möglichkeiten zu versuchen, um die entstehenden Lücken über die Zuwanderung von ausländischen Arbeitskräften zu schließen. Die IAB-Analyse gelangt zu dem Ergebnis, dass jährlich ca. 400.000 ausländische Arbeitskräfte netto für den deutschen Arbeitsmarkt gewonnen werden müssten, um die Erwerbspersonenzahl des Jahres 2020 zu halten.[8] Diese Zahl errechnet sich nach Abzug der Rückwanderungen von Arbeitsmigrant*innen und der Auswanderung deutscher Arbeitskräfte. Rechnet man Familienangehörige hinzu, gelangt man schnell zu einem erforderlichen jährlichen Zuzug von etwa einer Millionen Menschen aus dem Ausland.
Seit 1990 betrug der jährliche Wanderungsüberschuss mit dem Ausland durchschnittlich 350.000, wies aber starke Schwankungen auf.[9] Seit 2010 kamen im Jahresdurchschnitt netto ca. 450.000 Menschen nach Deutschland, in den 10 Jahren davor waren es nur rd. 100.000 pro Jahr. Auch die Herkunftsländer und die Wanderungsmotive variierten sehr stark. Bedingt durch die Arbeitnehmerfreizügigkeit der EU und die Finanzkrise 2008/09 sowie die nachgelagerte Euro-Krise kamen im Zeitraum 2010 bis 2018 vorwiegend Menschen aus anderen EU-Ländern, insbesondere aus den neuen EU-Mitgliedstaaten in Mittel- und Osteuropa, nach Deutschland. Die Zuwanderungen aus EU-Ländern sind aber seit einigen Jahren stark rückläufig, weil erstens deren Potenzial an Auswanderungswilligen jetzt weitgehend ausgeschöpft ist, weil sich zweitens die wirtschaftlichen Perspektiven dieser Länder deutlich verbessert haben und weil dort drittens inzwischen selbst starke demografische Probleme bestehen.
Zuwanderungen aus Nicht-EU-Ländern waren vor allem von den Flüchtlingswellen getrieben, zuletzt durch die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine. Bei ihnen spielten wirtschaftliche Motive eine untergeordnete Rolle. Nur 8 % der Zugewanderten aus Nicht-EU-Ländern kamen zu Erwerbszwecken nach Deutschland und 10 % zu Bildungszwecken.[10] Die rechtlichen Rahmenbedingungen für die Zuwanderung von Nicht-EU-Ausländer*innen in den deutschen Arbeitsmarkt wurden in den vergangenen Jahren zwar schrittweise verbessert, vor allem durch die Einführung einer „Blauen Karte“ nach EU-Recht für Hochqualifizierte und durch das 2020 in Kraft getretene Fachkräfteeinwanderungsgesetz.
Wenn die erforderliche Zahl von jährlich 400.000 Arbeitsmigrant*innen aus dem Ausland in nächster Zukunft aber auch nur annähernd erreicht werden soll, dann sind erhebliche zusätzliche Anstrengungen notwendig. Der überwiegende Teil wird wegen des deutlich verringerten Potenzials aus dem EU-Raum künftig aus Nicht-EU-Ländern kommen müssen. Ein erhebliches und noch viel zu wenig genutztes Potenzial liegt in der Integration von Geflüchteten in den deutschen Arbeitsmarkt. Dies erfordert im Regelfall einen „Spurwechsel“, also eine Änderung des Aufenthaltstitels, der die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit gestattet. Bisher gab es erhebliche politische Widerstände und hohe rechtliche Hürden, die vielen in Deutschland lebenden Ausländer*innen die Aufnahme einer Erwerbstätigkeit verboten oder erschwerten. Mit dem zu Jahresbeginn 2023 in Kraft getretenen Chancen-Aufenthaltsgesetz wird vielen bisher nur geduldeten Ausländer*innen ein dauerhaftes Bleiberecht ermöglicht, was die Voraussetzungen zu einer geregelten Erwerbstätigkeit erheblich verbessert. Auch ausländische Studierende bilden eine Zielgruppe für Arbeitsmigration, die bisher nicht stark beachtet wurde.
Das Fachkräfteeinwanderungsgesetz hat bis jetzt noch nicht die mit ihm verbundenen Erwartungen erfüllt. Das lag auch, aber nicht nur an den Reisebeschränkungen durch die Pandemie, deren Beginn zeitlich mit dem Inkrafttreten zusammenfiel. Es enthält immer noch viel zu hohe Hürden für Zuwanderungswillige, unter anderem durch unnötige bürokratische Regelungen und Anforderungen an die Anerkennung von Bildungsabschlüssen und an die deutschen Sprachkenntnisse. Die Ampel-Regierung hat sich daher mit gutem Grund eine Novellierung mit deutlichen Erleichterungen vorgenommen. Zu erwähnen sind ferner die geplante Chancenkarte, die Bewerber*innen aus Nicht-EU-Ländern den Zugang zum deutschen Arbeitsmarkt nach einem Punktesystem gewährt.
Es bestehen aber auch einige grundsätzliche Hindernisse, die nicht durch kleinere Gesetzesmodifikationen und -ergänzungen zu überwinden sind. So ist sowohl in den deutschen Auslandsvertretungen, als auch in den Ausländerbehörden in Deutschland ein Mentalitätswandel nötig. Die deutschen Botschaften und Konsulate sind bei der Visavergabe noch zu stark darauf fixiert, unerwünschte Personen aus Deutschland fernzuhalten, statt für eine Zuwanderung in den deutschen Arbeitsmarkt zu werben. Die Ausländerbehörden in Deutschland zeichnen sich oft nicht durch eine Willkommenskultur aus und die Zusammenarbeit zwischen ihnen, den Arbeitsgeber*innen und den bürgerschaftlichen Organisationen ist noch nicht hinreichend entwickelt, um den Zugewanderten das Einleben in Deutschland zu erleichtern. Generell besitzt Deutschland einen Wettbewerbsnachteil gegenüber englischsprachigen Ländern, weil viele grundsätzlich Migrationswillige keine Deutschkenntnisse besitzen und befürchten, dass sie allein mit Englischkenntnissen in Deutschland nicht sehr weit kommen werden. Dabei gibt es viele Branchen und Unternehmen, in denen Fachkräfte auch nur mit Englischkenntnissen problemlos bestehen können, wie etwa IT-Berufe oder multinationale Unternehmen, in denen Englisch ohnehin vielfach Arbeitssprache ist.
Verstärkte Fachkräftezuwanderung ist also dringend notwendig, wenn die unvermeidliche Fachkräftelücke auch nur ansatzweise geschlossen werden soll. Aber dazu sind noch erhebliche politische, administrative und bürgerschaftliche Anstrengungen notwendig. Deutschland kommt an einer Grundsatzdebatte darüber, wie viele Zuwander*innen es haben will und welche Veränderungen es dabei auf sich nehmen will, nicht vorbei.
Dritter Ansatzpunkt: Mehr Güter und Dienstleistungen importieren
Es überrascht, dass die Fachkräftediskussion in Deutschland nicht in einem breiteren ökonomischen Kontext diskutiert wird. Zuwanderungen sind ein Problemlösungsansatz für den Arbeitskräftemangel über den internationalen Arbeitsmarkt. Die internationalen Güter- und Dienstleistungsmärkte sind jedoch weit besser entwickelt, effizienter und in der Regel auch mit geringeren Transaktionskosten verbunden als der internationale Arbeitsmarkt. Das Fachkräfteproblem lässt sich in vielen Bereichen auch dadurch lösen, dass Güter und Dienstleistungen, bei denen Versorgungsengpässe drohen, aus dem Ausland importiert werden.
Bei zahlreichen Industrieprodukten ist dies ganz normaler Alltag. Um den Bedarf an Schuhen und Bekleidung zu befriedigen, muss Deutschland keine Näherinnen und Näher aus dem Ausland gewinnen, sondern diese Güter werden im Ausland gefertigt und von Unternehmen importiert. Schwieriger ist dagegen der Import von Dienstleistungen, weil bei ihnen vielfach Nutzer*in und Erbringer*in an einem Ort zusammenkommen müssen, d.h. sie lassen sich nicht räumlich transportieren und nicht lagern oder speichern. Dies gilt insbesondere für personenbezogene Dienstleistungen, etwa im Gesundheitswesen, in der Pflege, im Bildungswesen oder im Verkehr. Aber auch im Dienstleistungssektor ermöglicht die Digitalisierung zunehmend eine räumliche und zeitliche Trennung von Leistungserbringung und -nutzung. So hat die schon lange bestehende Knappheit von IT-Fachkräften Unternehmen dazu veranlasst, Programmiertätigkeiten, IT-Services und administrative Aufgaben wie die Buchhaltung in Länder auszulagern, in denen genügend Fachkräfte verfügbar sind, sie also zu importieren.
Eine Mischform zwischen Zuwanderung und Güter- und Dienstleistungsimporten lässt sich vor allem im Bausektor beobachten. Zwar müssen Bauwerke an dem Ort ihrer späteren Nutzung erstellt werden, sie lassen sich nicht transportieren. Aber die auf dem Bau benötigten Arbeitskräfte müssen nicht zwingend an den Standort des Gebäudes umziehen, sondern sie können ihre Leistung auch durch zeitweilige Anwesenheit und vorübergehende Mobilität am Baustandort erbringen. Die Bauleistungen müssen auch nicht durch heimische Unternehmen durchgeführt werden. Diese können ebenso gut an ausländische Unternehmen vergeben werden, die ihre Beschäftigten für die Dauer des Baus entsenden. Vergleichbare Mischformen von Dienstleistungserbringung vor Ort durch vorübergehende Mobilität der Leistungserbringer*innen haben sich auch in anderen Dienstleistungsbereichen wie Reparaturservices oder Transportdiensten etabliert. Selbst in der häuslichen Pflege gibt es ausländische Dienstleister, die mit vergleichbaren Modellen arbeiten. Innerhalb des europäischen Binnenmarktes ist dies durch die Entsenderichtlinie geregelt, die in Deutschland durch das Arbeitnehmer-Entsendegesetz umgesetzt ist.
Ein verstärkter Import von Gütern und Dienstleistungen lässt sich strategisch zur Bewältigung des Fachkräfteproblems einsetzen. Deutschland weist seit vielen Jahren einen stetig hohen Handelsbilanzüberschuss auf. In den vergangenen beiden Jahrzehnten übertrafen die deutschen Exporte die Importe in jedem Jahr um einen dreistelligen Milliardenbetrag, in der Spitze bis zu 250 Mrd. Euro.[11] Nur in 2022 fiel der Überschuss mit 79,7 Mrd. Euro etwas niedriger aus, was allein auf die stark gestiegenen Preise für importierte Rohstoffe wie Öl und Gas zu zurückzuführen ist. Die Dienstleistungsbilanz Deutschlands mit dem Ausland ist dagegen traditionell leicht defizitär, vor allem wegen der darin enthaltenen hohen Ausgaben der deutschen Touristen im Ausland. Nur in wenigen Jahren lag dieses Defizit aber über 30 Mrd. Euro[12] und wurde damit durch die sehr hohen Handelsbilanzüberschüsse mehr als gedeckt. Zusammen mit den übrigen Bestandteilen der Leistungsbilanz erzielt Deutschland damit Jahr für Jahr hohe Überschüsse mit dem Ausland und besitzt einen großen Spielraum für steigende Importe nicht nur von Waren, sondern auch von Dienstleistungen, ohne dass dies zu binnen- oder außenwirtschaftlichen Verwerfungen führen würde. Deutschland kann sich diese wegen der hohen Überschüsse leisten.
Dieser Spielraum lässt sich in einigen wichtigen, wenn auch nicht in allen Bereichen strategisch für die Bewältigung des Fachkräfteproblems nutzen. So könnten insbesondere für Bau-, Reparatur- und Installationsdienstleistungen gezielt ausländische Unternehmen als Anbieter für öffentliche und private Aufträge angeworben werden. Der Neubau und die Modernisierung von Wohnungen oder die Installation von Photovoltaikanlagen müssen nicht wegen fehlender Fachkräfte gedrosselt, sondern können durch ausländische Anbieter unvermindert umgesetzt werden. Dazu wäre eine gezielte Ansprache potenzieller ausländischer Anbieter hilfreich, etwa über die Außenwirtschaftsförderungsorganisationen von Bund und Ländern wie Germany Trade and Invest (GTAI) und die Auslandshandelskammern. Diese konzentrieren sich bisher überwiegend auf die Exportförderung, können aber ihre Kompetenzen und Netzwerke ebenso gut für die Anwerbung von Importeuren nutzen. Hinzu kommen digitalisierbare Dienstleistungen in den Bereichen IT, Verwaltung, Banken und Versicherungen, die schon jetzt und künftig noch häufiger von ausländischen Anbietern auf digitalem Wege erbracht werden können.
Im Falle solcher prinzipiell importfähigen Dienstleistungen ließe sich der Bedarf an Zuwanderungen ausländischer Fachkräfte deutlich verringern. Diese reisen nur vorübergehend für die Montage oder Reparatur an, müssen sich jedoch nicht mit ihren Familien dauerhaft in Deutschland niederlassen. Hohe Aufwendungen für Spracherwerb und Integration würden hinfällig.
Jedoch eignen sich dafür nicht alle Dienstleistungen, insbesondere medizinische und soziale Dienste, Bildung, Gastronomie, Sicherheitsdienste und viele Verkehrsdienstleistungen entziehen sich dieser Lösung. Sie erfordern auch weiterhin die dauerhafte Anwesenheit der Dienstleistungserbringer*innen in Deutschland und setzen vielfach deutsche Sprachkenntnisse voraus, die bei nur temporär in Deutschland tätigen Personen verzichtbar sind.
Indirekt profitieren aber auch diese von verstärkten Importen in anderen Bereichen, denn hierdurch wird der Nachfragedruck auf die sinkende Zahl der Erwerbspersonen gemildert. Fachkräfte, die wegen Dienstleistungsimporten nicht mehr in IT- oder Bauberufen benötigt werden, stehen dann eben für Tätigkeiten in den Branchen und Berufen zur Verfügung, die nicht auf Importe zurückgreifen können.
Damit rückt die grundsätzliche Frage des Zusammenhangs zwischen der starken Exportorientierung der deutschen Wirtschaft und dem Fachkräfteproblem in den Blick. Denn der hohe deutsche Exportüberschuss bindet in starkem Maße Fachkräfte für die Produktion nicht nur von Exportgütern, die zur Finanzierung der Importe benötigt werden, sondern darüber hinaus auch zur Produktion des Exportüberschusses, der das Güterangebot in Deutschland nicht steigert, sondern nur das deutsche Auslandsvermögen erhöht. Der volkswirtschaftlich ohnehin unproduktive deutsche Handelsbilanzüberschuss wird damit auch zu einer Belastung für die Lösung des Fachkräfteproblems. Zugleich weist ein möglicher Abbau aber auch eine Problemlösungsperspektive auf.
Dem steht jedoch ein in letzter Zeit durch die Pandemie und durch geopolitische Krisen entstandener kritischer Mindset zu deutschen Importen im Wege. Exemplarische Beispiele sind importierte Arzneimittel, die in der Pandemie zu einem Engpassfaktor geworden sind und die man daher wieder verstärkt in Deutschland produzieren möchte, oder eine Jeans-Produktion, die eine deutsche Textilhandelskette mit großem Stolz nach Deutschland zurück verlagert hat.[13] Während die kritische Bewertung der Abhängigkeit von Arzneimittelimporten gut nachvollziehbar erscheint, muss man sich bei der Jeans-Produktion fragen, ob die betroffenen Arbeitsplätze nicht besser in Bangladesh oder Vietnam verblieben wären und die für sie benötigten Arbeitskräfte in Deutschland nicht sinnvoller für andere Tätigkeiten eingesetzt werden sollten. Auch der aus Klimaschutzgründen gewollte Umstieg von fossilen auf erneuerbare Energien wird die deutschen Importe verringern und den Handelsbilanzüberschuss weiter vergrößern.
Der Fachkräftemangel bietet also einen guten Anlass, Deutschlands Rolle in der internationalen Arbeitsteilung neu zu bewerten.
Vierter Ansatzpunkt: Höhere Löhne, steigende Produktivität, Rationalisierung und Automatisierung
Wenn sich der Fachkräftemangel nicht durch eine Ausweitung des Arbeitsangebots oder eine Kompensation durch vermehrte Importe nach den ersten drei aufgezeigten Wegen vollständig lösen lässt, dann wird der Wettbewerb um die abnehmende Zahl der Beschäftigten über den Preis für Arbeit, also über den Lohn ausgetragen, alternativ auch über arbeitnehmerfreundlichere Arbeitsbedingungen. Nachdem die Reallöhne vor allem in den unteren und mittleren Einkommensklassen in den zurückliegenden Jahren hoher Arbeitslosigkeit meist nicht mit dem wirtschaftlichen Wachstum mithielten, wendet sich jetzt das Blatt. Nicht mehr Arbeitssuchende konkurrieren um zu wenige Arbeitsplätze, sondern Arbeitgebende konkurrierende um die sinkende Zahl an Bewerber*innen und locken sie mit allerlei Vergünstigungen einschließlich höherer Löhne an.
Für die Arbeitnehmenden ist dies zweifellos eine positive Entwicklung, aber die ökonomischen, sozialen und politischen Folgen sind vielschichtiger als es auf den ersten Blick scheint. Einige Ökonomen bestreiten gar mit dem Hinweis auf die Marktreinigungsfunktion der Löhne, dass es überhaupt einen Arbeits- oder Fachkräftemangel gibt.[14] Wenn Arbeitskräfte knapp sind, dann sollen steigende Löhne und eventuell auch bessere Arbeitsbedingungen dafür sorgen, dass sie in diejenigen Verwendungen gelenkt werden, in denen sie den höchsten Mehrwert erzielen. Ein Arbeitgeber, der die steigenden Löhne nicht zahlen kann und auf dem Arbeitsmarkt leer ausgeht, bietet danach keine Güter oder Dienstleistungen an, die die Volkswirtschaft vorrangig benötigt. Ein Arbeits- oder Fachkräftemangel wird über die Markträumungsfunktion der Löhne, also des Preises für Arbeit, einfach wegdefiniert.
Die marktwirtschaftliche Lenkungsfunktion der Löhne muss nicht zu dem schlechtesten Ergebnis führen, aber sie blendet viele ökonomische, soziale und politische Folgen aus und bildet auch die Komplexität der Anpassungsprozesse nicht vollständig ab. Dieses Argument ist insofern unvollständig, als es die Möglichkeit der Unternehmen zur Steigerung der Arbeitsproduktivität durch Digitalisierung, Rationalisierung, Automatisierung und Qualifizierung unberücksichtigt lässt. Bei niedrigen Löhnen lohnt es sich für Unternehmen oft nicht, Rationalisierungs- oder Digitalisierungsinvestitionen zu tätigen oder die Beschäftigten durch Qualifizierungsmaßnahmen weiterzubilden. Die Kostenabwägung fällt bei einem niedrigen Lohnniveau vielfach zugunsten einer arbeitsintensiven Produktionsweise mit einem hohen Arbeitskräftebedarf aus. Durch die Verknappung des Arbeitsangebots steigen die Löhne, die Kostenrelationen verändern sich, die Unternehmen investieren in arbeitssparende Technologien und bieten ihren Beschäftigten Weiterbildungsmaßnahmen an, wodurch deren Produktivität steigt und sich die höheren Löhne betriebswirtschaftlich rechnen. Der gleiche Output kann dann mit einer kleineren Zahl an Arbeitskräften erzeugt werden. Wenn dies alle Unternehmen tun, werden gesamtwirtschaftlich weniger Arbeitskräfte benötigt, der Arbeits- bzw. Fachkräftemangel ist behoben und die Wirtschaft muss nicht einmal ihren Output verringern.
Dies hört sich wie eine Win-Win-Lösung für alle an: Die Arbeitnehmer*innen erhalten höhere Löhne und die Wirtschaft kann genauso viele Güter und Dienstleistungen erzeugen wie vorher. Der Haken an diesem Argument ist nur, dass erstens nicht alle Branchen ihre Produktivität gleichermaßen durch Rationalisierungs- und Digitalisierungsinvestitionen oder Qualifizierungsmaßnahmen steigern können und dass man zweitens einen säkularen Rückgang des Produktivitätsanstiegs beobachtet, mit dessen Erklärung die Ökonom*innen sich sehr schwer tun. Zwar könnte die durch die Arbeitskräfteverknappung bedingte „Lohnpeitsche“ das Produktivitätswachstum wieder in gewissem Umfang beschleunigen. Es werden aber auch tiefer liegende technologische und arbeitsorganisatorische Ursachen hinter diesem Phänomen vermutet, die unabhängig von den Löhnen als Arbeitskosten wirken.
Für die Fachkräfteproblematik sind jedoch die ungleichen Rationalisierungspotenziale zwischen den Branchen das größere Problem. Die Produktivität ist in den Dienstleistungen systematisch niedriger als im Produzierenden Gewerbe und lässt sich auch nicht so leicht steigern. Das gilt vor allem für die besonders personalintensiven sozialen, Gesundheits- und Bildungsdienstleistungen. Zwar kann auch dort mit Digitalisierung eine gewisse Produktivitätssteigerung erzielt werden, aber diese findet ihre Grenzen in der persönlichen Zuwendung, die solche Dienstleistungen erfordern.
Eine rein marktwirtschaftliche Lösung des Fachkräfteproblems ginge damit zu Lasten der Gesundheits-, Pflege- und Bildungsdienstleistungen. Sie können höhere Löhne nicht oder nur in sehr geringem Maße durch Produktivitätssteigerungen auffangen. Wenn sie im Wettbewerb um die knapper gewordenen Arbeitskräfte mithalten wollen, müssen aber auch sie höhere Löhne anbieten. Dazu wäre es notwendig, dass ihre Leistungen höher vergütet werden, ohne dass ihr Output steigt. Wer also das Fachkräfteproblem vor allem über die Marktkräfte lösen will, muss allein schon aus Wettbewerbsgründen höhere finanzielle Ressourcen in das Bildungs-, Sozial- und Gesundheitswesen stecken. Zu dem ohnehin schon steigenden Arbeitskräftebedarf für Pflege und Gesundheit aufgrund der alternden Gesellschaft oder für eine gesicherte Ganztagsbetreuung in den Schulen und Kitas kommt dann noch auch noch ein Wettbewerbsnachteil wegen stark eingeschränkter Möglichkeiten zur Produktivitätssteigerung hinzu. Da diese Bereiche überwiegend über die öffentlichen Haushalte finanziert werden müssen, erzwingt die marktwirtschaftliche Lösung des Fachkräfteproblems paradoxerweise also einen höheren Staatsanteil der Volkswirtschaft.
Gleichwohl müssen Digitalisierung, Rationalisierung, Automatisierung und damit verbundene Qualifizierungsmaßnahmen einen wichtigen Platz in einer Strategie zur Bewältigung des Fachkräftemangels einnehmen. In einer Gesellschaft mit schrumpfender Erwerbspersonenzahl verlieren Automatisierungsmaßnahmen ihren Schrecken und werden auch aus Sicht der Arbeitnehmer*innen zu einem Mittel der Problemlösung. Digitalisierung und eine Politik zur Bewältigung des Fachkräftemangels müssen zusammengedacht und umgesetzt werden. Die markwirtschaftliche Lenkungsfunktion der Löhne löst das Fachkräfteproblem aber nicht von alleine und kann die Maßnahmen zur weiteren Steigerung der Erwerbstätigkeit, zur Anwerbung ausländischer Fachkräfte und zum vermehrten Import von Gütern und Dienstleistungen nicht ersetzen.
Schlussfolgerungen
Der Fach- und Arbeitskräftemangel wird sich in den kommenden Jahren erheblich verstärken. Dies gefährdet die Realisierung wichtiger politischer und gesellschaftlicher Ziele und Aufgaben wie den Ausbau erneuerbarer Energien, die energetische Sanierung des Wohnungsbestandes und den angestrebten Zubau neuer Wohnungen, die Modernisierung der Infrastruktur und vor allem eine gesicherte Alten-, Behinderten- und Krankenpflege. Gelingt es nicht, genügend Arbeitskräfte für die Erledigung dieser bedeutenden gesellschaftlichen Aufgaben zu gewinnen, drohen erhebliche politische und soziale Konflikte.
Zur Lösung des Problems werden verschiedene Maßnahmen diskutiert und vielfach schon eingesetzt, die teilweise gar keinen Effekt haben oder nicht genügend Potenzial besitzen, um dessen gesamtem Ausmaß gerecht zu werden. Eine Betrachtung des Arbeits- und Fachkräfteproblems in einem breiteren gesamtwirtschaftlichen Kontext zeigt Lösungsansätze auf, die in der aktuellen politischen Diskussion noch gar nicht angekommen sind.
Nutzlos sind die vielen Marketingkampagnen, mit denen Unternehmen und Verbände in letzter Zeit sehr auffällig und verstärkt um die künftig sinkende Zahl an Arbeitskräften buhlen. Aus der Sicht eines einzelnen Unternehmens oder einer Branche mag dies zielführend erscheinen, aber bei einer konstanten oder abnehmenden Erwerbspersonenzahl wird das Problem nur auf andere Unternehmen und Branchen abgewälzt. Die noch bestehenden Potenziale zur Steigerung der Erwerbsquote müssen ausgeschöpft werden, können aber nur noch einen begrenzten Beitrag leisten, weil die Erwerbsquote in den vergangenen Jahren schon so stark gestiegen ist, dass kaum noch Luft nach oben besteht. Auch die Zuwanderung von Fachkräften aus dem Ausland ist eine wichtige Maßnahme. Notwendig sind großzügige Aufenthaltsregelungen und eine echte Willkommenskultur. Aber die zur Stabilisierung der Erwerbspersonenzahl erforderlichen Nettozuwanderungen von 400.000 Arbeitskräften pro Jahr erscheinen wenig realistisch.
Es wäre angebracht, die Erledigung der wichtigen gesellschaftlichen Aufgaben in einem breiteren ökonomischen Kontext zu diskutieren. So könnten viele Aufgaben auch durch einen verstärkten Import von Gütern und Dienstleistungen erledigt werden. Deutschland kann sich dies leisten, weil es seit vielen Jahren einen stetig hohen Leistungsbilanzüberschuss aufweist. Arbeitskräfteknappheit wird außerdem Marktkräfte auslösen, die problemlösend wirken können. Knappheitsbedingt steigende Löhne und daraus folgend zunehmender Rationalisierungsdruck können Produktivitätssteigerungen bewirken, die es ermöglichen, einen angestrebten Output an Gütern und Dienstleistungen auch mit einem geringeren Personaleinsatz zu realisieren. Die Voraussetzungen dafür sind aber, wie auch der Umstieg auf Importe, in den Branchen und Berufen unterschiedlich stark vorhanden, so dass diese Lösungswege ökonomisch und sozial sorgfältig austariert werden müssen.
[1] Fachkräftestrategie der Bundesregierung. https://www.bmas.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/fachkraeftestrategie-der-bundesregierung.pdf?__blob=publicationFile&v=6
[2] Statistisches Bundesamt (2022), Erwerbstätige: Deutschland, Quartale, Inlands-/Inländerkonzept, Original- und bereinigte Daten (13321-0002).
[3] Fuchs, Johann; Söhnlein, Doris; Weber, Brigitte (2021): Demografische Entwicklung lässt das Arbeitsangebot stark schrumpfen, IAB-Kurzbericht 25/2021.
[4] Hobler, Dietmar; Pfahl, Svenja; Wittmann, Maike (2021): Erwerbstätigenquoten und Erwerbsquoten 1991-2020. WSI-GenderDatenPortal Beteiligung-01.
[5] Fuchs, Johann; Söhnlein, Doris; Weber, Brigitte (2021), a.a.O.
[6] Wanger, Susanne (2020): Entwicklung von Erwerbstätigkeit, Arbeitszeit und Arbeitsvolumen nach Geschlecht, IAB-Forschungsbericht 16/2020.
[7] Fuchs, Johann; Söhnlein, Doris; Weber, Brigitte (2021), a.a.O.
[8] Fuchs, Johann; Söhnlein, Doris; Weber, Brigitte (2021), a.a.O.
[9] Adunts, David; Brücker, Herbert; Fendel, Tanja; Hauptmann, Andreas; Keita, Sekou; Konle-Seidel, Regina (2022): Gesteuerte Erwerbsmigration nach Deutschland. IAB-Forschungsbericht 23/2022.
[10] Adunts, David; Brücker, Herbert; Fendel, Tanja; Hauptmann, Andreas; Keita, Sekou; Konle-Seidel, Regina (2022), a.a.O.
[11] Statistisches Bundesamt (2023): Außenhandel 51000-0001 Aus- und Einfuhr (Außenhandel):Deutschland, Jahre
[12] Deutsche Bundesbank (2023): Zahlungsbilanzstatistik, II. Leistungsbilanz
[13] Seidel, Hagen (2022): Jetzt verkauft C&A seine Denims made in Germany, in: Textilwirtschaft, März 2022.
[14] So Simon Jäger, Leiter des IZA – Institute of Labor Economics, Bonn, in einem Interview mit dem Spiegel („Die These vom Fachkräftemangel stimmt so nicht“) am 31.01.2023. https://www.spiegel.de/wirtschaft/soziales/arbeitsmarkt-die-these-vom-fachkraeftemangel-stimmt-so-nicht-a-2ee53b3e-c059-404f-9208-bc887a481b1c
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Es wird Sie nicht wundern, dass ich diesem Papier und seinen Schlussfolgerungen weitestgehend zustimme. Leider werden nicht nur bei der aktuellen Fachkräfteoffensive der Landesregierung NRW die Potenziale von Produktivitätssteigerungen durch Automatisierung, Digitalisierung und Einkauf v.a. von Dienstleistungen nicht ausreichend und nicht von allen beteiligten Akteuren gesehen. Es wäre eine politische Führungsaufgabe, die von ihnen genannten weiteren Lösungswege bekannter zu machen und mit den jeweils beteiligten Akteuren zu verfolgen.