Das Land, das unter seinen Verhältnissen lebt

Die Sparapostel haben sich wieder zurückgemeldet. Drei Jahre lang konnte der Staat die deutsche Wirtschaft mit milliardenschweren Programmen und Sondervermögen einigermaßen erfolgreich durch zwei außergewöhnlich schwere Krisen hindurch manövrieren. Jetzt drohen dringend für den Klimaschutz, den sozialen Zusammenhalt und das Funktionieren des Gemeinwesens notwendige und von einer breiten Bevölkerungsmehrheit unterstützte Vorhaben wie die Energiewende, Sanierung und Ausbau der Bahn, Kindergrundsicherung und Verteidigung an den Haushaltsvorgaben von Finanzminister Lindner zu scheitern. Er er sperrt sich gegen jegliche Anhebung von Steuern und will gleichzeitig die Schuldenbremse wieder einhalten. Es häufen sich wieder die Stimmen, Deutschland lebe über seinen Verhältnissen und müsse sparen, um die Zukunft seiner Kinder nicht zu gefährden. Exemplarisch sei der Präsident des Bundesrechnungshofs, Kay Scheller, genannt, der eine „Zeitenwende“ auch für die Haushaltspolitik fordert.[1]

Anything we can actually do, we can afford
John Maynard Keynes

Dabei lebt Deutschland schon seit vielen Jahren nicht über, sondern unter seinen Verhältnissen. Maßstab für das, was ein Land sich leisten kann, ist das Bruttoinlandsprodukt als Summe aller darin erzeugten Güter und Dienstleistungen, ergänzt um Arbeits- und Vermögenseinkünfte aus dem Ausland. Das, was sich ein Land faktisch leistet, ist die Summe aus den von seinen Bürger*innen getätigten Konsumausgaben, seinem Staatsverbrauch und seinen Investitionen, jeweils einschließlich der Importe. Der so gemessene Inlandsverbrauch lag in den vergangenen Jahren in Deutschland fast durchgängig um sechs bis acht Prozent unter dem Bruttoinlandsprodukt. Selbst im Jahr 2022, in dem die Importpreise für fossile Rohstoffe dramatisch angestiegen waren, übertraf das Bruttoinlandsprodukt immer noch den gesamten Inlandsverbrauch um vier Prozent. Hinzu kommt ein in der Öffentlichkeit kaum bemerkter stetiger Anstieg der deutschen Vermögenseinkünfte aus dem Ausland, das sind insbesondere die Zinsen, Dividenden und Gewinnausschüttungen auf Auslandsvermögen im Besitz deutscher Anleger*innen. Diese erreichten 2022 im Saldo, also nach Abzug der aus Deutschland gezahlten Vermögenseinkünfte ins Ausland, einen historischen Spitzenwert von 132 Mrd. Euro. Sie erweitern den Spielraum für das, was Deutschland sich leisten kann.

Deutschland hat also in den letzten beiden Jahrzehnten regelmäßig erheblich weniger für den eigenen Verbrauch ausgegeben als es eingenommen hat. Folge ist eine stark überschüssige Leistungsbilanz, die den Warenhandel und den Dienstleistungsverkehr mit dem Ausland und die sonstigen grenzüberschreitenden Einkommensbezüge abbildet. Deutschland hat über viele Jahre mehr Güter und Dienstleistungen ins Ausland geliefert, als es von dort bezogen hat und dadurch ein beachtliches (Netto-)Auslandsvermögen aufgebaut, das inzwischen sehr hohe Vermögenseinkünfte aus dem Ausland nach sich zieht.

Es ist bemerkenswert, dass sich die Debatte über das, was Deutschland sich leisten kann, fast immer nur um die Staatsausgaben und die Staatsverschuldung dreht, aber die überschüssige Leistungsbilanz und das stetig gewachsene deutsche Auslandsvermögen weitgehend ausblendet. Deutschland verstößt mit seinen hohen Leistungsbilanzüberschüssen regelmäßig gegen das im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz verankerte Ziel des außenwirtschaftlichen Gleichgewichts. Wir stehen deshalb auch in der Kritik ausländischer Staaten und internationaler Organisationen, weil das die internationalen Wirtschaftsbeziehungen empfindlich stört. Denn jedem Leistungsbilanzüberschuss eines Landes steht ein entsprechendes Defizit eines oder mehrerer anderer Länder gegenüber, die hierdurch in eine gefährliche Schieflage geraten können. Es ist längst überfällig, dass die Leistungsbilanz ins Zentrum der wirtschaftspolitischen Debatte in Deutschland rückt.

In dem folgenden Beitrag werden die Zahlen und Fakten zum deutschen Leistungsbilanzüberschuss und seinem Auslandsvermögen dargestellt und bewertet. Es wird die These vertreten, dass ein Abbau des Leistungsbilanzüberschusses einen wesentlichen Beitrag zur Lösung und Finanzierung der großen Zukunftsaufgaben leisten kann, wenn die bisher nicht für den Inlandsverbrauch und für die Finanzierung der importierten Waren und Dienstleistungen genutzten, sondern ins Ausland abgeflossenen Anteile der wirtschaftlichen Gesamtleistung Deutschlands hierfür verwendet werden. Das wird aber nur gelingen, wenn entweder die Reallöhne deutlich steigen oder der Staat über Schulden oder höhere Steuern die von den privaten Haushalten und den Unternehmen nicht für Konsum oder Investitionen verwendeten finanziellen Potenziale abschöpft und für die angestrebten Zukunftsinvestitionen einsetzt. Wenn sich Bundesfinanzminister Lindner dem verweigert, wird Deutschland ohne Not an seinen Zukunftsaufgaben scheitern.  

Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung und Leistungsbilanz als Maßstab

Nicht die Neuverschuldung der öffentlichen Haushalte, sondern die in der Volkswirtschaftlichen Gesamtrechnung erfasste wirtschaftliche Gesamtleistung eines Landes und der in der Leistungsbilanz abgebildete wirtschaftliche Austausch mit dem Ausland sind entscheidend für die Beantwortung der Frage, wieviel ein Land sich leisten kann und ob es über oder unter seinen Verhältnissen lebt. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung misst die Entstehung, Verwendung und Verteilung des Bruttoinlandsprodukts (BIP) als Summe aller produzierten Waren und Dienstleistungen eines Landes. Dieses kann für privaten Konsum (C), Staatsverbrauch (G) oder Investitionen (I) verwendet werden, die in der Summe den Inlandsverbrauch ergeben. In einer offenen Volkswirtschaft kommen Exporte von Waren und Dienstleistungen ins Ausland (X) und Importe aus dem Ausland (M) hinzu, so dass sich folgende Verwendungsgleichung ergibt:

              BIP = C + G + I + (X-M)

Wenn die Exporte und Importe eines Landes gleich hoch sind (X = M), verwendet es für Konsum, Staatsverbrauch und Investitionen genau so viel, wie es produziert. Exporte werden nur zur Finanzierung der Importe verwendet. Importiert es mehr Güter aus dem Ausland als es exportiert, dann ist der Inlandsverbrauch höher als das BIP. Exportiert es hingegen mehr ins Ausland als es von dort bezieht, dann liegt der Inlandsverbrauch unter dem BIP, es verbraucht also seine wirtschaftliche Gesamtleistung nicht in voller Höhe selbst, sondern gibt einen Teil davon ans Ausland ab.[2] Dieser Zusammenhang gilt immer ex post, auch wenn die Pläne der verschiedenen Akteure ex ante nicht zusammenfallen.

Der nicht von den privaten Haushalten und dem Staat konsumierte Teil des Bruttoinlandsprodukts bildet die Ersparnisse einer Volkswirtschaft und steht für die Erneuerung oder Erweiterung ihres Kapitalstocks und damit zur Stärkung ihrer Zukunftsfähigkeit zur Verfügung. Bei ausgeglichener Außenhandelsbilanz (X = M) sind die Investitionen ex-post immer gleich hoch wie die Ersparnisse (S = I). Da Sparen und Investieren aus ganz unterschiedlichen Motiven erfolgen und von vielen divergierenden Einflüssen abhängig sind, ist ex ante ein Ausgleich jedoch nicht zwingend gegeben. Die Ersparnisse können die Investitionspläne einer Volkswirtschaft übersteigen, aber sie können auch zu niedrig ausfallen.

An dieser Stelle kommt die Außenwirtschaft ins Spiel. Wenn die angestrebten Investitionen höher als die Ersparnisse sind, können diese auch über einen Kapitalimport realisiert werden, der immer mit einem Außenhandelsdefizit verbunden ist. Umgekehrt können Ersparnisse, die die Investitionen einer Volkswirtschaft übersteigen und im Weiteren als Überersparnisse bezeichnet werden, in Form von Handelsüberschüssen und Kapitalexporten ans Ausland abgegeben werden. In einer offenen Volkswirtschaft bildet die Handelsbilanz (und in erweiterter Form die Leistungsbilanz) daher auch einen Puffer für die Ersparnisse. Als nicht konsumierter Teil des Bruttoinlandsprodukts
(S = BIP – C – G) entsprechen die Ersparnisse der Summe aus Investitionen und Außenhandelsüberschuss

                            S = I + (X – M)

wobei im Sonderfall einer ausgeglichenen Handelsbilanz (X = M) die Ersparnisse exakt den Investitionen entsprechen (S = I). In diesem Fall liegen keine Überersparnisse vor.

Volkswirtschaften handeln nicht nur untereinander mit Waren und Dienstleistungen, sondern sie beziehen auch grenzüberschreitende Arbeits- und Vermögenseinkommen, die als Primäreinkommen bezeichnet werden. Dazu zählen die Arbeitseinkommen von Grenzpendler*innen und Saisonarbeitskräften. Quantitativ bedeutsamer sind aber die Zinsen, Dividenden, ausgeschütteten Gewinne und sonstigen Einkünfte aus Auslandsvermögen. Wenn man diese zum Bruttoinlandsprodukt hinzuaddiert, erhält man das Bruttonationaleinkommen (BNE), früher auch als Volkseinkommen oder Bruttosozialprodukt bezeichnet:

              BNE = BIP + PS

PS ist der Primäreinkommenssaldo als Differenz aus den aus dem Ausland empfangenen und an das Ausland gezahlten Primäreinkommen. Das BNE drückt die erzielten Gesamteinkommen aus dem In- und Ausland aus. Wenn der Primäreinkommenssaldo positiv ist, also mehr Einkommen aus dem Ausland zu- als nach dort abfließt, übertrifft das BNE das BIP und erhöht entsprechend den Ausgabenspielraum einer Volkswirtschaft.

In die Leistungsbilanz fließen außerdem Transferzahlungen ein, die auch als Sekundäreinkommen bezeichnet werden. Dies sind grenzüberschreitende Zahlungen, denen keine unmittelbare Gegenleistung entgegensteht. Sie umfassen heterogene Transaktionen wie die Beiträge und Rückflüsse zum bzw. aus dem Haushalt der EU und internationaler Organisationen, Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit und im privaten Bereich Überweisungen von Migrant*innen an Familienangehörige in den Herkunftsländern.

Die Leistungsbilanz setzt sich damit aus den folgenden vier Bestandteilen zusammen: Saldo des Warenhandels, Saldo des Dienstleistungsverkehrs, Primäreinkommenssaldo und Sekundäreinkommenssaldo, wobei die beiden Salden aus dem Warenhandel und den Dienstleistungen dem Handelsbilanzsaldo (X – M) entsprechen.

Die schwarze Linie in Abbildung 1 zeigt die Entwicklung der deutschen Leistungsbilanz seit 1991. In den ersten Jahren nach der Wiedervereinigung war sie leicht defizitär. Einem relativ niedrigen Warenhandelsüberschuss standen ein negativer Saldo bei den Dienstleistungen und eine defizitäre Sekundäreinkommensbilanz gegenüber. Die Primäreinkommensbilanz wies in einigen Jahren einen leichten Überschuss, in anderen ein kleines Defizit auf und war über das gesamte Jahrzehnt 1991-2000 ausgeglichen. Das Leistungsbilanzdefizit lag im Durchschnitt der 1990er Jahre bei einem moderaten Wert von -1,1 % des BIP, siehe Tabelle 1.

Abbildung 1: Entwicklung der deutschen Leistungsbilanz in Mrd. Euro, 1991-2022

Quelle: Eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt (Destatis), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen des Bundes 81000.

Dies änderte sich nach 2000 sehr deutlich. Die Überschüsse im Warenhandel kletterten im Jahresdurchschnitt 2001-2010 auf 6,5 % des BIP. Nach Abzug des (im Vergleich zur Vorperiode etwas abgeschwächten) Defizits im Dienstleistungsverkehr verblieb ein positiver Außenhandelssaldo von im Jahresdurchschnitt 4,9 % des BIP. Hinzu kam ein Plus bei den Vermögenseinkünften aus dem Ausland (Primäreinkommensbilanzüberschuss von 0,7 % des BIP), das die Gesamteinkünfte der deutschen Volkswirtschaft entsprechend erhöhte. Die Sekundäreinkommen blieben im Saldo auch weiterhin leicht negativ. Insgesamt stieg der Leistungsbilanzüberschuss in diesem Jahrzehnt auf einen Jahresdurchschnitt von 4,3 % des BIP. Die schwarze Linie in Abbildung 1 zeigt, wie dieser ab 2000 kontinuierlich anstieg und 2007 kurz vor der Finanzkrise mit 174 Mrd. Euro einen ersten Höhepunkt erklomm.

Tabelle 1: Deutscher Leistungsbilanzsaldo und seine Bestandteile sowie Anteile des Inlandsverbrauchs und seiner Komponenten (Privater Konsum, Staatsverbrauch, Investitionen) am Bruttoinlandsprodukt im Jahresdurchschnitt in den Zeiträumen 1991-2000, 2001-2010 und 2011-2020 in %

 Jahresdurchschnitt 1991-2000Jahresdurchschnitt 2001-2010Jahresdurchschnitt 2011-2020
Leistungsbilanz-saldo insgesamt-1,14,37,6
Außenhandels-saldo

davon Waren
davon Dienst-
leistungen
0,3


2,6

-2,3
4,9


6,5

-1,6
6,3


7,1
-0,8
Primärein-kommenssaldo0,00,72,6
Sekundärein-kommenssaldo-1,5-1,3-1,3
Bruttoinlands-
produkt

Bruttonational-einkommen
100,0


99,9
100,0


100,7
100,0


102,6
Inlandsverbrauch insgesamt

Privater Konsum
Staatsverbrauch
Investitionen
davon privat
davon Staat
99,7


56,1
19,2
24,3
21,6
2,7
95,1


55,7
18,9
20,6
18,4
2,1
93,7


53,0
19,9
20,9
18,6
2,3
Quelle: Eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt (Destatis), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen des Bundes 81000

Nach der Finanzkrise kletterte der Leistungsbilanzüberschuss weiter auf 7,6 % (Jahresdurchschnitt 2011-2020) und erreichte in den Jahren 2015 und 2016 einen historischen Spitzenwert von 8,7 %. Dies lag an den erneut deutlich gestiegenen Überschüssen im Warenhandel und an einem stark angewachsenen Überschuss der Primäreinkommen aus dem Ausland. Im Durchschnitt dieser Jahre kamen letztere auf einen BIP-Anteil von 2,6 % und haben inzwischen (2022) 3,4 % erreicht. Zwischen 2015 und 2021 belief sich der Leistungsbilanzüberschuss in absoluten Zahlen auf jährlich 250 bis 270 Mrd. Euro, das ist mehr als zwei Drittel der Bundeshaushalte in diesen Jahren. Deutschland verzichtete also in den vergangenen Jahren regelmäßig darauf, erwirtschaftetes Einkommen in diesem Umfang für privaten Konsum, Staatsverbrauch und Investitionen zu verausgaben und zog es vor, den Überschuss in ausländische Vermögenswerte wie Direktinvestitionen, Aktien, Investmentfonds, Bankeinlagen oder Staatsanleihen anderer Länder zu stecken.

Erst im Jahr 2022 ging der deutsche Leistungsbilanzüberschuss wegen der drastisch gestiegenen Importpreise für Rohstoffe deutlich zurück. Allein für den Bezug von Öl, Gas und Kohle aus dem Ausland mussten rd. 70 Mrd. Euro mehr als in den Vorjahren aufgewendet werden. Trotz dieser hohen Abflüsse blieb aber auch 2022 noch ein Leistungsbilanzüberschuss von 156 Mrd. Euro übrig. Deutschland konnte seine stark verteuerten Energieeinfuhren vollständig aus seinen Exporterlösen bezahlen und musste sich dafür nicht im Ausland verschulden. Dies gibt eine erste Antwort auf die in der Öffentlichkeit häufig gestellte Frage, woher denn das viele Geld für die gestiegenen Gas- und Ölrechnungen stammt.

Spiegelbildlich zum Leistungsbilanzsaldo sank der Anteil des Inlandsverbrauchs am BIP von 99,7 % in den 1990er Jahren auf 95,1 % in den Nullerjahren und dann weiter auf nur noch 93,7 % im darauffolgenden Jahrzehnt. Hierzu trugen ein Rückgang der Investitionsquote (von 24,3 % im Zeitraum 1991-2000 auf 20,9 % im Zeitraum 2011-2020 bei einem leichten Anstieg auf 22,6 % in 2022) und der Konsumquote (von 56,1 % im Zeitraum 1991-2000 auf 53,0 % im Zeitraum 2011-2020 und weiter auf 51,2 % in 2022) bei. Der Anteil des Staatsverbrauchs am BIP blieb mit 19 bis 20 % lange Zeit konstant und stieg erst ab 2020 wegen der Krisenmaßnahmen auf 21,9 % an. Die hohen Leistungsbilanzüberschüsse gingen also vor allem zu Lasten inländischer Investitionen und des Konsums der privaten Haushalte. 

Ein erstes Fazit lautet also: Deutschland lebt seit zwei Jahrzehnten deutlich unter seinen Verhältnissen. Von dem Bruttoinlandsprodukt, das die inländischen Unternehmen und ihre Arbeitskräfte erwirtschaften, wird schon seit fast 20 Jahren – mit Ausnahme des Krisenjahres 2022 – regelmäßig nur ein Anteil von ca. 92 bis 95 % des BIP für den inländischen Verbrauch genutzt. Deutschland gibt deutlich weniger für privaten Konsum, Staatsverbrauch und Investitionen aus als es mit seinem Bruttoinlandsprodukt und durch sein Auslandsvermögen erwirtschaftet. Es bildet Jahr für Jahr einen hohen Leistungsbilanzüberschuss, der in ausländischen Vermögenswerten angelegt wird, die ihrerseits jährlich steigende Erträge abwerfen und zu einem stetig wachsenden Primäreinkommensüberschuss Deutschlands führen. Der Überschuss aus dem, was Deutschland als Einkommen verdient, und dem, was es ausgibt, wird damit ständig größer. Da der Primäreinkommensüberschuss fast ausschließlich aus den Vermögenseinkommen entsteht, wird damit auch die Verteilung des Bruttonationaleinkommens immer mehr zugunsten der Vermögensbesitzenden verschoben.

Wie sind die Außenhandels- und Primäreinkommensüberschüsse verwendet worden?

Wohin aber sind die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse der vergangenen Jahre geflossen? Im Zuge der Globalisierung der Finanzmärkte haben Banken, Unternehmen, Stiftungen, private Haushalte und andere Vermögensbesitzende einen stetig steigenden Anteil ihrer Vermögenswerte im Ausland angelegt. Abbildung 2 zeigt, dass das Bruttoauslandsvermögen (blaue Säulen), also die Summe aller von Inländern im Ausland gehaltenen Vermögenswerte wie Direktinvestitionen, Wertpapiere oder Sichteinlagen von 2.500 Mrd. Euro im Jahr 1999, dem Startjahr der Währungsunion, auf 12.000 Mrd. Euro im Jahr 2022 angestiegen ist.[3] Das bedeutet nominal fast eine Verfünffachung in nur gut zwei Jahrzehnten. Preisbereinigt ist dies immer noch ein Anstieg um mehr als das 3,5-fache. Der Anteil des Auslandsvermögens am gesamten deutschen Geldvermögen kletterte von 18,5 % im Jahr 1999 auf 34,0 % im Jahr 2022. Gut ein Drittel des deutschen Geldvermögens besteht also aus ausländischen Vermögenswerten.

Abbildung 2: Deutsches Auslandsvermögen und -verbindlichkeiten in Mrd. Euro, 1999-2022

Quelle: Deutsche Bundesbank, Statistik, Auslandsvermögen und -verschuldung; Eigene Berechnung.

Umgekehrt stiegen auch die deutschen Bruttoauslandsverbindlichkeiten (orange Säulen), das sind die von Ausländer*innen in Deutschland gehaltenen Vermögenswerte, allerdings nur auf 9.200 Mrd. Euro im Jahr 2022. Zwischen 2012 und 2018 stagnierten die Vermögen von Ausländer*innen in Deutschland sogar. 1999 war die deutsche Auslandsvermögensbilanz war noch fast ausgeglichen. Seit 1999 hat Deutschland damit ein Nettoauslandsvermögen (schwarze Linie in Abbildung 2) von 2.750 Mrd. Euro als Überschuss des von Deutschen im Ausland gehaltenen Vermögens über das Vermögen der Ausländer*innen in Deutschland aufgebaut.

Vielfach wird der starke Anstieg des deutschen Nettoauslandsvermögens auf hohe Direktinvestitionen deutscher Unternehmen im Ausland zurückgeführt und damit auch gerechtfertigt. Darunter fallen Investitionen in den Auf- und Ausbau von Vertriebszentralen und Produktionsstätten im Ausland, mit denen die Exporte flankiert werden und die die deutschen Unternehmen zu Weltmarktplayern gemacht haben. Abbildung 2 zeigt jedoch, dass diese nur einen eher geringen Anteil am deutschen Auslandsvermögen haben. 2022 beliefen sich die deutschen Direktinvestitionen im Ausland auf 2.910 Mrd. Euro, das ist nur knapp ein Viertel des gesamten deutschen Auslandsvermögens. Die ausländischen Direktinvestitionen in Deutschland betragen aktuell 1.890 Mrd. Euro. Die deutschen Direktinvestitionen im Ausland übertreffen damit die Direktinvestitionen ausländischer Unternehmen in Deutschland um 1.020 Mrd. Euro.

Der überwiegende Teil des deutschen Auslandsvermögens, insgesamt 9.050 Mrd. Euro, besteht damit aus Finanzanlagen wie Aktien, Investmentfondsanteile, Schuldverschreibungen, Kredite und Bankguthaben.[4] 1999 lagen diese noch bei 2.050 Mrd. Euro, sie sind also in 23 Jahren nominal um 7 Billionen Euro gewachsen. Zieht man die ausländischen Finanzanlagen in Deutschland in Höhe von 7.320 Mrd. Euro hiervon ab, verbleibt ein deutsches Nettofinanzvermögen im Ausland von 1.730 Mrd. Euro. Bis 2004 war dieser Saldo noch fast ausgeglichen. Der Überschuss deutscher Finanzanlagen im Ausland über die ausländischen Finanzanlagen in Deutschland ist also erst in den letzten 18 Jahren entstanden und hat in dieser sehr kurzen Zeit ein Volumen von ca. 50 % des deutschen Bruttoinlandsprodukts erreicht.

Zum insgesamt starken Anstieg des Auslandsvermögens, sowohl auf der Aktiv-, als auch auf der Passivseite, haben die enormen Bewertungsgewinne vieler Vermögenswerte und die mit der Globalisierung einhergehende Tendenz zur stärkeren internationalen Streuung von Investitionen und Finanzanlagen beigetragen. Diese Tendenz betraf jedoch die Aktiv- und die Passivseite gleichermaßen. Das erst nach 2005 entstandene hohe Nettoauslandsvermögen als Überschuss der Aktiv- über die Passivseite ist jedoch alleinige Folge der stetigen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse, die in ausländischen Vermögenswerten angelegt wurden. Sie bewirken inzwischen jedes Jahr einen Einkommenszufluss in dreistelliger Milliardenhöhe, der als Primäreinkommensüberschuss nur im Bruttonationaleinkommen (BNE), nicht jedoch im BIP erfasst wird. Zugleich fehlen dringend benötigte Mittel für Ausgaben im Bildungswesen, bei der Erneuerung und dem Ausbau der Infrastruktur, für die energetische Sanierung des Wohnungsbestandes und den Einbau klimaneutraler Heizungen, für ein besseres Gesundheitswesen, für die Verteidigung und vieles mehr, die aus den Export- und Primäreinkommensüberschüssen hätten finanziert werden können. Warum transferiert die deutsche Volkswirtschaft jährlich Milliardenbeträge auf Auslandskonten, wenn derartige Bedarfe nicht befriedigt werden? Und was geschieht mit den hohen Einkünften aus den Auslandsvermögen?

Der heimliche Weltmeister im Sparen

Hohe Leistungsbilanzüberschüsse werden in Politik und Medien oft als Ausdruck einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft begrüßt und zugleich missverstanden. Dass ein hoher Leistungsbilanzüberschuss nur mit einer wettbewerbsfähigen Wirtschaft erzielt werden kann, ist nicht falsch, aber nur ein kleiner Teil der Wahrheit. Die stetig hohen Mittelabflüsse ins Ausland weisen auf einen nachhaltig gestörten Funktionsmechanismus der deutschen Binnenwirtschaft hin, der mit einer überzogenen Sparneigung einhergeht.

Dauerhafte Exportüberschüsse bedeuten, dass die Ersparnisse eines Landes nicht vollständig für Investitionen im Inland verwendet werden. Durch strukturelle Nachfragedefizite treten Überersparnisse auf, die mangels inländischer Investitionsgüternachfrage ans Ausland abgegeben werden.

Dies ist genau die Situation, in der sich die deutsche Volkswirtschaft seit rund 20 Jahren befindet. Deutschland spart erheblich mehr als es investiert und ist darauf angewiesen, mehr Waren und Dienstleistungen ins Ausland zu exportieren als von dort zu importieren, um seine Produktionskapazitäten auszulasten und Arbeitslosigkeit zu vermeiden. Dies kann man als Investitionsschwäche oder als übertriebenes Sparen (oder Mix von beidem) interpretieren. Ein über zwei Jahrzehnte währender, dauerhaft hoher Leistungsbilanzüberschuss ist aber gewiss nicht Ausdruck der Stärke einer Volkswirtschaft, sondern weist vielmehr auf grundlegende Schwächen und Funktionsdefizite und einen strukturellen Nachfragemangel hin. Es liegt daher nahe, die Entwicklung der deutschen Ersparnisse genauer zu betrachten.

Abbildung 3: Anteile der Ersparnisse, Bruttoinvestitionen und Überersparnisse am BIP in %, Deutschland 1991-2022

Quelle: Eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt (Destatis), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen des Bundes 81000.

Abbildung 3 zeigt die deutschen Gesamtersparnisse. Dies ist der nicht für privaten Konsum oder Staatsverbrauch verwendete Anteil des Bruttoinlandsprodukts, jeweils mit (dunkelblau) und ohne (hellblau) Vermögenseinkünfte aus dem Ausland. Grau gefärbt sind die Überersparnisse, die übrigbleiben, wenn man auch die Investitionen abzieht, für die sie eigentlich gedacht sind, und die damit keine inländische Verwendung finden. Dunkelgrau sind die im Inland erwirtschafteten Überersparnisse, hellgrau die ausländischen Vermögenseinkünfte, die den im Inland erzeugten Ersparnisse hinzugerechnet werden können.

Bis 2000 lagen die Investitionen und die Ersparnisse relativ stabil bei 25 % des BIP, so dass die volkswirtschaftlichen Ersparnisse fast vollständig für Investitionen aufgebraucht wurden. Bis 2005 gingen die Investitionen auf einen Anteil von nur noch ca. 20 % des BIP zurück, während die Ersparnisse stabil blieben. Dadurch bildete sich ein Überschuss der Ersparnisse von rd. 5 % des BIP. Ab 2005 stiegen dann auch die Ersparnisse deutlich an, nur vorübergehend durch die Finanzkrise 2008/09 unterbrochen, und erreichten 2021 einen Spitzenwert von 28,6 % des BIP, unter Einschluss der Vermögenseinkünfte aus dem Ausland sogar von 32,2 %. 2022 gingen sie wegen der stark gestiegenen Ausgaben für die Rohstoffimporte wieder leicht zurück. Die Investitionen begann ab 2016 erneut zu steigen und erreichten 2022 wieder einen Anteil von 22,6 % am BIP. Damit lagen sie aber immer noch deutlich unter den Ersparnissen.

Die Überersparnisse in Abbildung 3 sind das Gegenstück zu dem in Abbildung 1 dargestellten Außenhandelsüberschuss (bzw. Leistungsbilanzüberschuss, wenn man die Vermögenseinkünfte aus dem Ausland als Saldo der Primäreinkommen hinzurechnet). Die weder für Konsum noch für Investitionen im Inland verbrauchten Waren und Dienstleistungen gingen als Außenhandelsüberschuss ins Ausland und erhöhten das deutsche Nettoauslandsvermögen.

Die nach 2000 gesunkenen Investitionen sind die Folge des Auslaufens des Investitionsbooms in Ostdeutschland nach der Wiedervereinigung. Wie aber kam es zu dem Anstieg der Ersparnisse ab 2005? Der Minderbedarf für Investitionen hätte eigentlich mehr Ressourcen für den privaten und staatlichen Konsum freigemacht. Eine Antwort hierauf liefert Abbildung 4.

Abbildung 4: Finanzierungssaldo der Hauptaggregate der Volkswirtschaft in % des BIP, Deutschland 1991-2022

Quelle: Eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt (Destatis), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen des Bundes 81000.

Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung erstellt für die fünf Hauptaggregate der Volkswirtschaft (Private Haushalte und Organisationen ohne Erwerbscharakter, Finanzielle Kapitalgesellschaften, Nicht-finanzielle Kapitalgesellschaften, Staat, Übrige Welt) jeweils eigene Teilbilanzen, die u.a. deren spezifische Konsum- und Investitionsausgaben und Ersparnisse wiedergeben. Von Interesse sind hier die Finanzierungssalden der Hauptaggregate, die sich im Wesentlichen als Differenz zwischen ihren jeweiligen Ersparnissen und Investitionen ergeben. Ein positiver Finanzierungssaldo eines volkswirtschaftlichen Hauptaggregats bedeutet, dass dieses seine Einkünfte nicht vollständig für Konsum, Investitionen und Steuern verbraucht und den Überschuss anderen Hauptaggregaten, z.B. als Kredit, zur Verfügung stellt. Wenn alle inländischen Akteure Überschüsse erzielen, also eine volkswirtschaftliche Überersparnis auftritt, fließen diese als Kapitalexport ins Ausland, das hier als „Übrige Welt“ bezeichnet wird. Die Summe aller Finanzierungssalden der vier inländischen Hauptaggregate entspricht auch dem Leistungsbilanzsaldo.[5]

Nach der Standardlehre der Ökonomie sind die Privaten Haushalte typischerweise Nettosparer, d.h. sie verwenden ihr Einkommen nicht vollständig für ihren Konsum (und für das Zahlen von Steuern), sondern bilden einen Teil davon als Rücklage für größere Anschaffungen, Immobilienerwerb, Altersvorsorge oder zum Aufbau eines Vermögens, das sie als Erbe an die nächste Generation weitergeben. Auch nach Abzug ihrer Wohnungsbauinvestitionen verbleibt damit ein beträchtlicher positiver Finanzierungssaldo, den die Privaten Haushalte über die Banken den Unternehmen zur Finanzierung ihrer Investitionen zur Verfügung stellen. Die Unternehmen können nach dieser Standardlehre ihre Investitionen nur teilweise aus eigenen Mitteln finanzieren und benötigen dafür Kredit, den sie über die Banken aus den überschüssigen finanziellen Mitteln der Privaten Haushalte aufnehmen. Und dann gibt es in der traditionellen ökonomischen Standardlehre noch einen dritten Akteur, der als Spielverderber agiert. Dies ist der Staat, der sich nicht mit seinen Steuereinnahmen begnügt und ebenfalls über die staatliche Kreditaufnahme auf die begrenzten Ersparnisse der Privaten Haushalte zugreift. Dadurch macht er den Unternehmen Konkurrenz um die knappen Ersparnisse der Privaten Haushalte, treibt mit seiner Kreditnachfrage die Zinsen in die Höhe und verdrängt private Investitionen („crowding out“). Das würde das Wachstum schwächen und Arbeitsplätze gefährden.

Wie Abbildung 4 zeigt, bildet dieses Narrativ aber spätestens seit zwei Jahrzehnten die Realität nicht mehr zutreffend ab. Nur die Privaten Haushalte agieren bis heute nach diesem Muster und stellen den anderen Akteuren (auch nach Abzug ihrer eigenen Investitionen) Ersparnisse in der Größenordnung von regelmäßig ca. 4 bis 6 % des gesamten BIP zur Verfügung. Aber die Unternehmen benötigen in ihrer Gesamtheit schon seit über 20 Jahren diese Ersparnisse nicht mehr. Seit 2001 sind auch sie fast durchweg Nettosparer, d.h. nach Abzug ihrer Investitionsausgaben verbleiben auch bei ihnen Ersparnisse, die sie dem Finanzsektor zur Weitergabe an Dritte anbieten.[6] 2014 hat sich schließlich auch der Staat als Folge der Schuldenbremse und der noch schärferen „Schwarzen Null“ auf die Seite der Nettosparer geschlagen. In den Folgejahren bildeten alle drei volkswirtschaftlichen Akteure finanzielle Überschüsse, für die es trotz niedriger Zinsen keine binnenwirtschaftliche Nachfrage gab. So musste und muss es denn das Ausland richten und die Finanzierungsüberschüsse aller drei Akteure absorbieren.

Im Jahr 2020 veränderte die Pandemie das Bild ein wenig, aber wahrscheinlich nur vorübergehend. Der Staat kompensierte mit teuren Hilfsmaßnahmen die pandemiebedingten Einnahmeausfälle der Unternehmen und Kommunen und übernahm die stark gestiegen Ausgaben im Gesundheitswesen. Dadurch musste er sich wieder verschulden. Aber es waren genug finanzielle Mittel im Kreislauf, denn die Haushalte hatten ihre Konsumausgaben wegen des Lockdowns stark eingeschränkt, was ihre Ersparnisse in die Höhe trieb. In den beiden Jahressäulen für 2020 und 2021 in Abbildung 4 wird ersichtlich, dass die neuen Schulden des Staates in diesen beiden Jahren in etwa dem Zuwachs bei den Ersparnissen der Haushalte entsprachen. Dieser stabilisierte die Finanzlage der Unternehmen, indem er die überschüssigen Ersparnisse der Haushalte als Staatskredite von den Banken übernahm und in Gestalt der verschiedenen Hilfsprogramme an die Unternehmen weiterreichte.

Die durch den russischen Angriffskrieg in der Ukraine ausgelöste Folgekrise traf auf etwas andere Ausgangsbedingungen. Die Haushalte hatten ihre Ersparnisse wieder auf Normalmaß zurückgeführt, so dass der Staat für die Hilfsmaßnahmen zur Bewältigung der Energiepreiskrise einen Teil der bis dahin ins Ausland geflossenen Ersparnisse in Anspruch nehmen musste. Dadurch sank der Leistungsbilanzüberschuss, dieser war mit einem Anteil am BIP von 3,4 % aber immer noch beachtlich hoch. Man kann davon ausgehen, dass die zurückgehenden Energiepreise im Jahr 2023 und in den Folgejahren erneut zu Überersparnissen bei allen Hauptaggregaten der Volkswirtschaft und damit zu höheren Leistungsbilanzüberschüssen führen, auch wenn diese wahrscheinlich nicht mehr das sehr hohe Niveau der Vorjahre erreichen werden.

Die im Inland nicht verbrauchten Ersparnisse sind sehr ungleich über die Haushalte und Unternehmen verteilt. Die Volkswirtschaftliche Gesamtrechnung nimmt keine Differenzierung der Haushaltseinkünfte nach Einkommens- oder Vermögenshöhe vor. Hilfsweise lässt sich dazu die Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes heranzeihen, die allerdings auf Selbstangaben der befragten Haushalte beruht und zudem Haushalte mit sehr hohen Einkommen (über 18.000 netto im Monat) nicht erfasst. Daraus lässt sich ableiten, dass rd. zwei Drittel aller nicht für Konsumzwecke verwendeten Einkommen auf Haushalte mit einem Nettoeinkommen von über 5.000 Euro entfallen, der Rest auf die mittleren Einkommensklassen zwischen 1.700 und 5.000 Euro.[7] Die beiden unteren Einkommensklassen (bis zu 1.700 Euro) benötigen ihr Nettoeinkommen fast vollständig für den privaten Konsum und können praktisch keine Ersparnisse bilden. Die mittleren Einkommensgruppen verwenden einen erheblichen Teil ihrer Ersparnisse für die Schaffung von Wohneigentum. Finanzanlagen wie der Erwerb von Aktien, Wertpapieren, Fondsanteilen, Staatsanleihen und Unternehmensbeteiligungen können sich daher fast nur Bezieher*innen höherer Einkommen leisten. Diese Überersparnisse, für die weder der deutsche Staat (wegen der Schuldenbremse) noch die inländischen Unternehmen (aufgrund gesunkener Investitionen) Verwendung hat, fließen dann mangels Alternative in ausländische Finanzanlagen. Ihnen stehen infolgedessen auch die zuletzt stetig gewachsenen Vermögenserträge aus dem Ausland zu.

Auch im Unternehmenssektor sind die Überersparnisse, die daraus getätigten Finanzanlagen im Ausland und die hieraus resultierenden Vermögenseinkünfte ungleich verteilt. Unternehmen mit besonders hohen Gewinnen und niedrigen Investitionen sind überproportional daran beteiligt.

Damit stellt sich die Frage, warum sich Deutschland mit dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschüssen eingerichtet hat, die keine erkennbare sinnvolle ökonomische Funktion haben, und was dies einerseits für den finanzpolitischen Handlungsspielraum Deutschlands und andererseits für die Stabilität des internationalen Finanzsystems bedeutet.

Deutschland ist mit seinen exzessiven Leistungsbilanzüberschüssen ein Störenfried der Weltwirtschaft

Während Deutschland sich gerne als Exportweltmeister rühmt und in hohen Leistungsbilanzüberschüssen einen Ausdruck wirtschaftlicher Wettbewerbsfähigkeit sieht, werden diese im Ausland und in internationalen Organisationen sehr kritisch gesehen. Den Handels- und Leistungsbilanzüberschüssen eines Landes stehen immer in exakt gleicher Höhe Defizite eines oder mehrerer anderer Länder entgegen. Über alle Volkswirtschaften der Welt betrachtet sind diese Bilanzen stets ausgeglichen. Die deutschen Überschüsse sind demnach die Defizite anderer Länder. Durch drohende Abwertungen sind Leistungsbilanzdefizite mit einem hohen Währungsrisiko verbunden und können einen Vertrauensverlust auf den internationalen Finanzmärkten und einen Kapitalabzug zur Folge haben. Vor allem Schwellen- und Entwicklungsländer, darunter Mexiko (1994/95), verschiedene ostasiatische Länder (1997/98, Indonesien, Thailand, Malaysia, Südkorea) und die Türkei (2021/22), haben damit in den vergangenen Jahrzehnten schlechte Erfahrungen gemacht. Abwertungen, Umschuldungen und drastische Sparmaßnahmen waren und sind die wirtschaftlichen Konsequenzen, denen oft politische Unruhen folgen.

Abbildung 5: Länder mit den höchsten Leistungsbilanzüberschüssen und -defiziten in %, Durchschnitt der Jahre 2005-2021

Quelle: Eigene Berechnungen auf der Grundlage der Balance of Payments and International Investment Positions Statistics (BOP/IIP) des Internationalen Währungsfonds

Die Gruppe der Länder mit Leistungsbilanzüberschüssen und -defiziten ist seit vielen Jahren sehr stabil. Abbildung 5 enthält eine anteilmäßige Aufteilung der Summe aller weltweit gebildeten Überschüsse und Defizite nach Ländern Zeitraum 2005 bis 2021. Deutschland lag in dieser Periode an der Spitze mit einem Anteil von 20 % an allen weltweiten Leistungsbilanzüberschüssen, gefolgt von China mit 17 % und Japan mit 12 %. Unter den weiteren Überschussländern befinden sich insbesondere Rohstoffexporteure, Finanzzentren wie Singapur und die Schweiz sowie mehrere kleinere und mittelgroße Länder in Nord- und Westeuropa. Beim Nettoauslandsvermögen liegt Deutschland mit 2.750 Mrd. Euro weltweit auf Platz 2 hinter Japan, das schon früher als Deutschland mit dem Aufbau hoher Leistungsbilanzüberschüsse und Nettokapitalexporte begann.

Bei den Defiziten stechen die USA heraus. Sie allein haben seit 2005 rund die Hälfte aller Leistungsüberschüsse der gesamten Welt absorbiert. Dies wurde durch die Funktion des Dollar als globaler Leitwährung begünstigt, in der der überwiegende Teil der internationalen Handels- und Finanzgeschäfte abgewickelt wird. Dadurch bauen Überschussländer große Dollarvermögen auf, die sie vorzugsweise in den USA anlegen. Die USA werden hierdurch in die Lage versetzt, fast unbeschränkt Außenhandelsdefizite zu finanzieren. Die Folge sind hohe Importe der USA, die zu Lasten einheimischer Wertschöpfung und Arbeitsplätze gehen, woraus eine massive und langanhaltende Erosion amerikanischer Industriearbeitsplätze resultiert. Dies gehört zu dem makroökonomischen Hintergrund für den „Inflation Reduction Act“, mit dem die US-Regierung wieder industrielle Wertschöpfung in die USA zurückholen möchte.

Neben den USA sind die übrigen angelsächsischen Volkswirtschaften (Großbritannien, Australien, Kanada), verschiedene Schwellenländer (Brasilien, Indien, Türkei) und – allerdings nur bis zur Euro-Krise 2012 – mehrere südeuropäische Länder in der Gruppe der Defizitländer vertreten.

Die hohen unausgeglichenen Leistungsbilanzen und daraus folgenden grenzüberschreitenden Finanz- und Kapitalströme beinhalten enorme Risiken für die Weltwirtschaft. Der Internationale Währungsfonds (IWF) analysiert und bewertet diese seit 2012 jährlich in einem External Sector Report. Dabei geht er durchaus differenziert vor, indem er zunächst natürliche ökonomische Einflüsse identifiziert, die eine positive oder negative Leistungsbilanz begründen können und insoweit zu akzeptieren sind. Dazu zählt er unter anderem eine alternde Bevölkerung, die Geldvermögen im Ausland für ihre Alterssicherung aufbaut, hohe und volatile Rohstoffexporte, die im Inland nicht vollständig verausgabt werden können, und Vermögenseinkünfte aufgrund eines hohen Nettoauslandsvermögens. Nur Leistungsbilanzungleichgewichte, die hiervon erheblich abweichen, bewertet er kritisch. Von dem deutschen Leistungsbilanzüberschuss in Höhe von 7,6 % des BIP im Jahr 2022 hält der IWF einen Anteil von 3,3 % aufgrund seiner Fundamentaldaten für angemessen. Faktisch liegt dieser aber um 4,3 Prozentpunkte darüber.[8] Deutschland steht daher seit Beginn der Berichterstattung beim IWF wegen seines übermäßigen Leistungsbilanzüberschusses („substantially stronger“) regelmäßig am Pranger.

Nicht nur der IWF, sondern auch die EU wirft seit der Finanzkrise 2008/09 mit ihrem Verfahren zur Überprüfung makroökonomischer Ungleichgewichte ein Auge auf die Leistungsbilanzüberschüsse. Die Leistungsbilanzsalden und das Nettoauslandsvermögen gehören zu den Leitindikatoren, die sie hierbei verwendet. Ein Leistungsbilanzüberschuss von über 6 % des BIP gilt dabei als kritisch. Obwohl Deutschland diesen Wert in den vergangenen Jahren mehrmals überschritten hat, stört sich hierzulande kaum jemand daran. Es ist bemerkenswert, mit welcher Unbekümmertheit Politik und Medien in Deutschland die Warnungen der EU und selbst des IWF, den sie sonst gern als Mahner für stabilitätskonforme Wirtschaftspolitik zitieren, bei diesem Thema ignorieren.

Die erstaunliche Unbekümmertheit deutscher Ökonom*innen über das außenwirtschaftliche Ungleichgewicht

Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz aus dem Jahr 1967 verpflichtet die Bundesregierung, ihre Wirtschaftspolitik an den vier makroökonomischen Stabilitätszielen auszurichten, darunter dem außenwirtschaftlichen Gleichgewicht. Mit den hohen Leistungsbilanzüberschüssen verstößt Deutschland seit vielen Jahren regelmäßig und vehement hiergegen. Man hat aber den Eindruck, dass dies in Deutschland niemanden bekümmert. In den Jahreswirtschaftsberichten der Bundesregierung wird das Thema weitgehend ignoriert. Die makroökonomische Politik in Deutschland orientiert sich viel stärker an einem finanzwirtschaftlichen Prinzip, nämlich der 2009 in das Grundgesetz aufgenommenen Schuldenbremse, die im Stabilitäts- und Wachstumsgesetz gar nicht vorkommt. In Politik und Medien ist praktisch kein Bewusstsein für die Gefahren und Nachteile außenwirtschaftlicher Ungleichgewichte vorhanden.

Dies kann man auch von den bedeutendsten Beratungsgremien der deutschen Wirtschaftspolitik sagen. Weder der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR), der der deutschen Leistungsbilanz in seinem Jahresgutachten 2014 ein eigenes Kapitel widmete,[9] noch der Wissenschaftliche Beirat beim Bundeswirtschaftsministerium, der im Jahr 2019 dazu ein Gutachten erstellte,[10] sahen einen Handlungsbedarf. Beide konzedierten zwar einen Zusammenhang zwischen Ersparnissen, Investitionen und Leistungsbilanzüberschüssen, werteten diese aber als natürliche und notwendige Folge eines finanz-, sozial- und tarifpolitischen Konsolidierungsprozesses in Deutschland. Man kann dem SVR zugutehalten, dass die hohen Leistungsbilanzüberschüsse zum Zeitpunkt seines Berichts erst wenige Jahre alt waren und das Nettoauslandsvermögen noch deutlich unter dem heutigen Niveau lag und dass man diese damals noch für ein temporäres Phänomen halten konnte. Letztlich ist die Sorglosigkeit des SVR aber Ausdruck der von ihm über lange Zeit verfolgten angebotstheoretischen Ausrichtung, die die außenwirtschaftliche Saldenmechanik mit ihren Rückwirkungen auf die globalen Güter-, Arbeits- und Finanzmärkte wenn nicht ignoriert, so doch zumindest stark relativiert. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung des Gutachtens des Wissenschaftlichen Beirats beim Bundeswirtschaftsministerium hatte sich der deutsche Leistungsbilanzüberschuss aber schon viel stärker verfestigt. Trotzdem sieht er ihn primär als Ergebnis freier Entscheidungen der Akteure in einer offenen Weltwirtschaft, die sich wirtschaftspolitischer Maßnahmen weitgehend entziehen.

In wissenschaftlichen Äußerungen deutscher Ökonom*innen[11] werden die hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse immer wieder mit zwei Argumenten gerechtfertigt. Kapital sei erstens ständig auf der Suche nach der höchsten Rentabilität. Da es in armen Ländern knapper und die Verzinsung höher sei als in reichen wie Deutschland, bestünde ein Anreiz zur Verlagerung in kapitalarme Länder, insbesondere in Schwellen- und Entwicklungsländer. Dagegen spricht aber die Empirie, denn die weltweiten Überschüsse fließen zur Hälfte in die USA und zu einem weiteren Viertel in andere entwickelte Volkswirtschaften, die keine Kapitalknappheit aufweisen. Zwar ziehen auch einige Schwellenländer, darunter Indien und Brasilien, mit Leistungsbilanzdefiziten Kapital an. Aber China als größtes Schwellenland widerspricht wiederum diesem Argument, weil es nach Deutschland die höchsten Leistungsbilanzüberschüsse erzielt und in erheblichem Umfang Kapital exportiert.

Das zweite Argument setzt an der demografischen Entwicklung und Überalterung von Ländern wie Deutschland an. Danach führt die Überalterung zunächst zu einem hohen Anteil an Menschen im erwerbsfähigen Lebensalter, die zur Altersvorsorge überdurchschnittlich viel sparen und ihr Kapital vorzugsweise in Ländern mit junger Bevölkerung anlegen, die ihnen im Alter eine einträgliche Rendite versprechen. Bei oberflächlicher Betrachtung könnte man Deutschland mit seiner überalterten Bevölkerung als Bestätigung dieser These deuten. Dann müsste der Kapitalabfluss aber tatsächlich mittelbar oder unmittelbar zur Altersvorsorge verwendet worden sein. Tatsächlich haben verschiedene Rohstoffexportländer Staatsfonds als Kapitaldeckung ihrer Alterssicherung aufgebaut und einen Großteil ihres Auslandsvermögens darin eingebracht. Das bekannteste Beispiel ist der norwegische Staatsfonds. Bei der Eigentümerstruktur des deutschen Nettoauslandsvermögens ist jedoch keine Ausrichtung am Ziel der Altersvorsorge erkennbar. Wenn das demografische Argument zutrifft, müssten außerdem Länder mit kapitalgedeckten Altersvorsorgesystemen tendenziell höhere Leistungsüberschüsse aufweisen als Länder mit einer überwiegend umlagefinanzierten Alterssicherung wie zum Beispiel Deutschland.

Weder das Kapitalknappheits- noch das demografische Argument kann also die anhaltend hohen deutschen Leistungsbilanzüberschüsse überzeugend und hinreichend erklären. Um sie zu verstehen, muss man an der Lohn-, Sozial- und Steuerpolitik der vergangenen 25 Jahre ansetzen.

Die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse haben die Euro-Krise maßgeblich mitverursacht

In den 1990er Jahren hatte sich die deutsche Wirtschaft voll auf die Bewältigung der Wiedervereinigung konzentriert und dazu einen Investitionsboom im Osten ausgelöst. Nach dessen Auslaufen zu Beginn der Nullerjahre geriet Deutschland in eine tiefe Rezession mit negativen Wachstumsraten in den Jahren 2002 und 2003 und der höchsten Arbeitslosigkeit seit Jahrzehnten. Vielfach wurde behauptet, Deutschlands Wettbewerbsfähigkeit sei gefährdet, das Land drohe wirtschaftlich hinter seine Nachbarländer zurückzufallen und zum „kranken Mann Europas“ zu werden. Es breitete sich die Auffassung aus, Deutschland habe sich mit der Wiedervereinigung wirtschaftlich übernommen und müsse nun seine Sozialsysteme und seine staatlichen Haushalte grundlegend sanieren und die Unternehmen steuerlich entlasten, damit sie wieder mehr investieren. Solche Forderungen sind auch jetzt wieder vermehrt zu hören.

Die verschiedenen Regierungskoalitionen im Bund reagierten darauf unter anderem mit der Einführung von Hartz IV, weiteren leistungsmindernden Maßnahmen im Bereich der Sozialversicherungen und einer Absenkung der Unternehmenssteuersätze und Spitzensätze bei der Einkommensteuer. Hierdurch sollten die öffentlichen Haushalte entlastet werden und die Unternehmen sollten Anreize für mehr Investitionen erhalten. Durch die hohen Arbeitslosenzahlen war die Verhandlungsposition der Gewerkschaften bei den Tarifverhandlungen schon erheblich geschwächt, die Entstehung eines Niedriglohnsektors durch Hartz IV verstärkte diesen Effekt. Während die Einkommenssteuersätze für die Unternehmen und Bezieher*innen hoher Einkommen in mehreren Schritten gesenkt wurde, erfolgte 2007 eine Anhebung der Umsatzsteuer von 16 auf 19 %, die vor allem die unteren und mittleren Einkommensgruppen belastete.  

Abbildung 6: Index der preisbereinigten Arbeitsproduktivität (BIP je Arbeitsstunde) und Arbeitskosten (Arbeitnehmerentgelte je Arbeitsstunde), 1991=100


Quelle: Eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt (Destatis), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen des Bundes 81000.

Die Reformmaßnahmen hatten eine mehrere Jahre währende Stagnation der Reallöhne zur Folge. Abbildung 6 zeigt, dass die Arbeitnehmerentgelte je Arbeitsstunde (rote Linie) zwischen 2000 und 2007 preisbereinigt nicht anstiegen, zwischen 2003 und 2007 waren sie sogar real gesunken. Die Arbeitsproduktivität (blaue Linie) wuchs aber unvermindert weiter. Die Arbeitskosten waren von 1991 bis 2007 real um 16,5 % gestiegen, die Arbeitsproduktivität jedoch um 30,5 %. Die produktivitätsbedingt höhere Wertschöpfung hatten die Unternehmen einbehalten. Dadurch sanken die Lohnstückkosten und die preisliche Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen nahm zu. Erst im Pandemie-Jahr 2020 schloss sich kurzzeitig die Lücke zwischen Arbeitsproduktivität und Arbeitskosten, öffnete sich anschließend jedoch wieder, weil die Reallöhne in der anziehenden Inflation erneut hinter der Produktivitätsentwicklung zurückblieben.

Wie schon Abbildung 3 zeigte, stieg die nach 2000 stark gesunkene Investitionsquote trotz der Entlastung der Unternehmen durch eine moderate Lohnentwicklung und Steuersenkungen nicht wieder an. Stagnierende Löhne und Kürzungen von Sozialleistungen bewirkten dagegen einen spürbaren und stetigen Rückgang des Anteils der verfügbaren Einkommen der Haushalte am BIP von 62 % im Jahr 2005 auf nur noch ca. 56 % am aktuellen Rand. Infolgedessen sank der Anteil des privaten Konsums am BIP im gleichen Zeitraum ebenfalls von 56 auf 50 %. Nur der Staatsverbrauch blieb weitgehend stabil, konnte die gesunkenen Investitions- und Konsumanteile am BIP jedoch nicht kompensieren.

Die veränderte primäre Einkommensverteilung zu Lasten der Arbeitnehmereinkommen zeigt sich auch in einer gesunkenen volkswirtschaftlichen Lohnquote. Wie Abbildung 7 deutlich macht, bewegte sich der Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Bruttonationaleinkommen bis 2003 zwischen 52 und 54 % und sackte anschließend auf 47,5 % bis 2007 ab. Anschließend stieg er wieder und liegt aktuell bei 50,8 %, hat damit aber das bis ca. 2003 bestehende Niveau nicht wieder erreicht. Die Lohnquote entwickelte sich damit spiegelbildlich zur Leistungsbilanz. Eine niedrige Lohnquote, die einer hohen volkswirtschaftlichen Gewinnquote entspricht, führt zu Leistungsbilanzüberschüssen, weil die Konsumnachfrage und infolgedessen auch die Investitionsgüternachfrage geschwächt wird und diese durch höhere Exporte kompensiert werden müssen. Dabei entstehen Überersparnisse, die ins Ausland abfließen. Es lässt sich damit eine kausale Kette von den steuerlichen Entlastungen und Kürzungen im Sozialbereich auf die Leistungsbilanzüberschüsse herstellen.

Abbildung 7: Anteil der Arbeitnehmerentgelte am Bruttonationaleinkommen in %, Deutschland 1991-2022

Quelle: Quelle: Eigene Berechnung nach Statistisches Bundesamt (Destatis), Volkswirtschaftliche Gesamtrechnungen des Bundes 81000.

Diese Lösung war aber nur stabil, weil noch ein zweites wichtiges Ereignis hinzukam, nämlich die Einführung einer einheitlichen Währung in Europa. Durch einen langanhaltenden Leistungsbilanzüberschuss, wie ihn Deutschland in den vergangenen 20 Jahren erlebt hat, gerät eine Volkswirtschaft normalerweise unter Aufwertungsdruck. Dadurch werden die Exportgüter teurer und die Importe billiger, mit der Folge, dass die Exporte sinken und die Importe steigen und sich die Handelsbilanz wieder auf einen Ausgleich zubewegt. Dieser Korrekturmechanismus ist jedoch seit Einführung einer gemeinsamen Währung in Europa verbaut. Innerhalb der Eurozone, auf die rund die Hälfte des deutschen Außenhandels entfällt, sind Änderungen der Wechselkurse nicht mehr möglich und zu den übrigen Ländern gilt nun ein gemeinsamer Wechselkurs für die gesamte Eurozone, der auf die Besonderheiten einzelner Länder nicht mehr Rücksicht nehmen kann.

Abbildung 8: Entwicklung der Arbeitskosten (Arbeitnehmerentgelte je Arbeits-stunde) in Deutschland, Frankreich, Italien, Spanien und der Eurozone, 1999=100

Quelle: Eigene Berechnung auf Basis der Ameco Datenbank der Europäischen Kommission

Nach 1999 entwickelten sich die Länder innerhalb der Eurozone wirtschaftlich auseinander.  Abbildung 8 zeigt die Entwicklung der Arbeitskosten in den vier größten Euro-Ländern Deutschland, Frankreich, Italien und Spanien sowie im Durchschnitt der Eurozone seit Einführung des Euro im Jahr 1999. Während diese bis 2007, wie schon in Tabelle 6 zu erkennen war, in Deutschland stagnierten, stiegen sie in Italien und Spanien zunächst recht kräftig an. Frankreich bewegte sich zwischen diesen Extremen. Innerhalb von nur acht Jahren hatten sich die Arbeitskosten zwischen Deutschland auf der einen und den beiden südeuropäischen Ländern auf der anderen Seite um rund 25 % auseinanderentwickelt. Die Herstellung Italienischer und spanischer Produkte hatte sich also gegenüber den deutschen um etwa ein Viertel verteuert. Dies hatte nicht nur Auswirklungen auf den bilateralen Handel, sondern auch auf Drittmärkten konnten italienische und spanische Unternehmen preislich oft kaum noch mit den deutschen mithalten. Zwingende Folge waren Handelsüberschüsse Deutschlands und entsprechende Defizite Italiens und Spaniens, die durch Auf- und Abwertungen nicht mehr korrigiert werden konnten. Die Exporterlöse transferierten deutsche Banken als Finanzanlagen, in beträchtlichem Umfang auch als Staatsanleihen, zurück in die Euro-Defizitländer. Und so begann die Euro-Krise.[12]

Es bestätigte sich, dass eine gemeinsame Geld- und Währungspolitik in einer Währungsunion ohne effektive Koordinierung der Lohn- und Finanzpolitik nur schwer funktionieren kann. In Deutschland waren sich Politik und Medien einig, dass die lockere Finanzpolitik und die schwache Spardisziplin in Südeuropa, nicht jedoch die deutsche Austeritätspolitik an der Schieflage schuld sind. Dabei ermöglichten die deutschen Überschüsse, die durch die Austeritätspolitik entstanden war, erst deren Defizite. In Deutschland hat man nie wahrhaben wollen, dass Überschüsse und Defizite zwei sich gegenseitig bedingende Seiten desselben Phänomens sind und dass die hohen Ersparnisse bei niedrigen Investitionen in Deutschland ebenso stark zur Euro-Krise beitrugen wie hohe Ausgaben für den privaten und staatlichen Verbrauch in Südeuropa. Die Anpassungslasten in Form scharfer Ausgabenkürzungen des Staates, Wachstumseinbußen und hoher Arbeitslosigkeit mussten diese allerdings alleine tragen.

Die südeuropäischen Länder befanden sie sich in der eindeutig schwächeren Verhandlungsposition, da sie im Nachgang der Finanzkrise 2008/09 unter den Druck der Finanzmärkte geraten waren. Dadurch wurden sie gezwungen, sich der deutschen Sparphilosophie anzupassen. Deutschland hätte ihnen aber auch mit einer expansiveren Lohn- und Finanzpolitik entgegengekommen kommen können und dies besser verkraftet als die südeuropäischen Länder, die die volle Härte der Sparmaßnahmen traf. Stattdessen zementierte Deutschland seine Sparphilosophie 2009 mit der Verankerung der Schuldenbremse im Grundgesetz und zwang sie 2011 auch noch gemeinsam mit anderen nord- und westeuropäischen Euro-Ländern der gesamten Eurozone durch eine Verschärfung des Stabilitäts- und Wachstumspakts auf. Viele internationale Ökonomen bewerten die deutsche Sparpolitik als große Heuchelei, denn diese trägt nicht weniger Verantwortung für die Euro-Krise als die lockere Finanzpolitik der südeuropäischen Länder.[13]

Ab 2012 bewegten sich die makroökonomischen Rahmendaten der Euro-Länder dann wieder aufeinander zu. Die Arbeitskosten stiegen in Südeuropa seither weniger stark als im Durchschnitt der Eurozone, Spanien senkte sie bis 2018 sehr stark. Die Abweichungen bei den makroökonomischen Rahmendaten zwischen den Euro-Ländern wurden deutlich verringert. Dies hat gemeinsam mit den geldpolitischen Stützungskäufen der EZB dazu geführt, dass der Fortbestand der Währungsunion heute nicht mehr gefährdet ist. Die südeuropäischen Länder haben ihre Leistungsbilanzdefizite weitgehend abgebaut, Italien und Spanien erzielen seit mehreren Jahren sogar Leistungsbilanzüberschüsse. Bis zur Eurokrise hatte die Eurozone sowie die EU als Ganzes mit den Nicht-EU-Ländern noch eine ausgeglichene Leistungsbilanz, wobei den Überschüssen Deutschlands und einiger weiterer west- und nordeuropäischer Länder Defizite Südeuropas gegenüberstanden. Der Abbau der Leistungsbilanzdefizite in Südeuropa führte bei fortbestehenden Überschüssen Deutschlands und seiner nördlichen und westlichen Nachbarn dann aber zum Entstehen eines Leistungsbilanzüberschusses der EU bzw. der Eurozone mit den Drittländern. Die überschüssigen Waren und Dienstleistungen, die Deutschland aufgrund der Sparmaßnahmen in den Defizitländern nicht mehr in der Eurozone absetzen kann, werden seither in außereuropäischen Ländern, insbesondere in den USA abgeladen und erhöhen deren Leistungsbilanzdefizite. Entsprechend ist deren Misstrauen gegenüber Deutschland gewachsen.

Der Mainstream der deutschen Politik, Wissenschaft und Medien befürwortet offene Märkte und freien Außenhandel und lehnt Protektionismus und Merkantilismus ab. Ausländische Beobachter sehen in den anhaltend hohen deutschen Leistungsbilanzbilanzüberschüssen jedoch eine Variante des Merkantilismus, da diese eine ähnlich wettbewerbsverzerrende Wirkung wie Einfuhrzölle und Subventionen haben. Die deutsche Unbekümmertheit über seine Leistungsbilanzüberschüsse wird im Ausland daher oft als Heuchelei kritisiert.[14] 

In welchem Zusammenhang stehen die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse aber mit der Finanzierung der großen Zukunftsaufgaben in Deutschland? Lassen sie sich dazu nutzen?

Finanzielle Ressourcen für die großen Zukunftsausgaben mobilisieren statt auf Auslandskonten schmoren lassen

In Deutschland ist eine heftige Debatte über die Finanzierung der Transformation zu einer klimaneutralen Wirtschaft entbrannt. Die Finanzierung wichtiger Investitionen wie der Ausbau der erneuerbaren Energien, der Austausch von Öl- und Gasheizungen durch Wärmepumpen, die Wärmedämmung des Altbaubestandes, die Umstellung der Grundstoffindustrien auf klimaneutrale Produktion, die Förderung der Wasserstofftechnologie sowie der Ausbau und die Erneuerung der Schieneninfrastruktur gilt als ungesichert. Schon jetzt können viele Haushalte die gestiegenen Energiekosten kaum noch tragen. Hinzu kommen Finanzierungsbedarfe für politische und gesellschaftliche Aufgaben wie die Beschleunigung der Digitalisierung, die Verbesserung des Bildungs- und des Gesundheitswesens, die Einführung einer Kindergrundsicherung und eine verbesserte Ausstattung der Bundeswehr. Es ist immer wieder zu hören, Deutschland müsse sparen, sich auf weniger Wohlstand einstellen und seine Prioritäten anders setzen. Kaum jemand fragt aber, warum Deutschland seit vielen Jahren nur rund 93 bis 95 % seiner Wirtschaftsleistung für den eigenen Bedarf nutzt und die restlichen Produktionskapazitäten für einen Exportüberschuss bindet, der außer höheren Guthaben auf Auslandskonten keinen volkswirtschaftlichen Nutzen bringt und den auch das Ausland gar nicht haben möchte. Und schon gar nicht fragt man, wofür die Erträge verwendet werden, die obendrein noch aus dem inzwischen entstandenen Nettoauslandsvermögen als Vermögenseinkünfte in jährlich dreistelliger Milliardenhöhe zufließen.

Deutschland spart nicht zu wenig, sondern es spart zu viel. Seit 20 Jahren verwendet es seine Wertschöpfung und zusätzlichen Vermögenseinkünfte aus dem Ausland nicht mehr vollständig für inländischen Konsum oder Investitionen. Es bleibt ein Rest von regelmäßig 250 bis 300 Mrd. Euro pro Jahr als Ersparnisüberschuss, der ins Ausland abfließt. Damit tut Deutschland seinen internationalen Handelspartnern keinen Gefallen, denn sie bauen entsprechende Leistungsbilanzdefizite auf und erhöhen ihre Auslandsverschuldung. Aber auch aus deutscher Sicht sind dauerhaft hohe Leistungsbilanzbilanzüberschüsse von großem Nachteil, denn sie stellen angesichts der gewaltigen politischen und gesellschaftlichen Herausforderungen eine große Vergeudung ökonomischer Ressourcen dar. Offenbar werden diese nicht optimal in dem Sinne der vorhandenen dringenden Bedarfe effizient genutzt.

Die Überersparnisse von 250 bis 300 Mrd. Euro pro Jahr würden ausreichen, um alle genannten Zusatzbedarfe solide zu finanzieren. Deren Mobilisierung ist aber alles andere als eine triviale Aufgabe,[15] vor allem, weil die Ersparnisse nicht bei denjenigen anfallen, die die zusätzlichen Investitionen tätigen müssen. Überersparnisse entstehen vor allem bei zwei Gruppen: bei Haushalten mit hohen Einkommen bzw. Vermögen und bei Unternehmen, deren Gewinne die Investitionen übersteigen. Sie sind zur Deckung wirtschaftlicher Bedürfnisse weitgehend funktionslos, denn sie werden von ihren Eigentümern nicht für Konsum oder Investitionen verwendet, vielleicht abgesehen von den Direktinvestitionen im Ausland, die aber weniger als ein Viertel des gesamten deutschen Auslandsvermögens ausmachen.

Vermögende Haushalte und Unternehmen können damit steigende Energiekosten und Klimaschutzinvestitionen aus eigener Kraft finanzieren, ohne sich einschränken zu müssen, denn sie haben ja bisher schon keine Verwendung für ihre gesamten Einkünfte. Anders verhält es sich erstens bei Hauhalten mit geringen und mittleren Einkommen, die diese vollständig oder überwiegend für privaten Konsum und in einigen Fällen auch für die Finanzierung eines Eigenheimes aufbrauchen, zweitens bei Unternehmen, deren Betriebserlöse nicht für die Deckung der gestiegenen Energiekosten und für die notwendigen Investitionen zum Klimaschutz ausreichen, und drittens beim Staat, dessen Ausgabenspielraum durch die Schuldenbremse und steuerpolitische Grundsatzentscheidungen beschränkt wird. Damit stellt sich die Frage, ob und wie es gelingen kann, die überschüssigen und ungenutzten Reserven der vermögenden Haushalte und gewinnstarken Unternehmen für die Finanzierung der Klimaschutzinvestitionen und sonstigen Zukunftsaufgaben zu mobilisieren.

Ein erster Ansatz besteht darin, die volkswirtschaftliche Lohnquote auf das bis vor 20 Jahren geltende Niveau anzuheben. Die Löhne müssten dazu temporär stärker steigen als das Bruttoinlandsprodukt. Dies würde die verfügbaren Einkommen vor allem der unteren und mittleren Einkommensgruppen steigern und ihnen bei der Deckung der Energie- und Klimakosten helfen. Steigende Löhne bedeuten für die Unternehmen jedoch eine höhere Kostenbelastung. Unternehmen mit überschüssigen Gewinnen können dies verkraften. Betroffen wären aber auch Unternehmen mit niedrigen Gewinnen und hohem Investitionsbedarf, die aus dem Markt ausscheiden müssten, wenn sie im internationalen Wettbewerb nicht mehr mithalten können. Da der Leistungsbilanzüberschuss sinken soll, wäre dies eine intendierte Konsequenz, die jedoch struktur- und arbeitsmarktpolitisch abgefedert werden müsste, zum Beispiel durch Qualifizierungsmaßnahmen und Förderung der Unternehmen bei der Umstellung auf die Produktion von Gütern und Dienstleistungen, die für den Klimaschutz benötigt werden. Außerdem würde die Binnennachfrage steigen, was zusätzliche Wertschöpfung und Beschäftigung im Inland bringen würde.

Das Lohnniveau ist wegen der Tarifautonomie politisch nur in Grenzen beeinflussbar. Der demografische Wandel und damit steigende Arbeitskräfteknappheit werden in nächster Zeit einen zunehmenden Druck auf höhere Löhne ausüben. Durch Anhebung des Mindestlohns, durch die Setzung arbeits- und tarifrechtlicher Rahmenbedingungen und durch seine Eigenschaft als Arbeitgeber übt aber auch der Staat in gewissem Umfang selbst Einfluss auf die Lohnentwicklung aus. Die aktuellen Tarifentscheidungen im öffentlichen Dienst lassen jedoch keine aktive Lohnführerschaft des öffentlichen Dienstes erkennen.

Ein erheblicher Teil der Aufgaben im Klimaschutz und vor allem in den Bereichen Infrastruktur, Bildung, Gesundheit und Verteidigung betrifft öffentliche Güter, die vom Staat finanziert werden müssen. Außerdem muss der Staat die auf Transfereinkommen angewiesenen Haushalte bei den Energiekosten finanziell unterstützen und Unternehmen aus den Grundstoffindustrien mit Subventionen bei den horrenden Investitionen insbesondere in die Wasserstofftechnologie helfen. Ein Beispiel ist die Förderung einer klimaneutralen Stahlerzeugung durch Substitution von Kokskohle durch Wasserstoff, die die finanziellen Möglichkeiten der Stahlindustrie übersteigt. Dies ist nur mit einer steigenden Staatsquote zu erreichen, denn viele der genannten Aufgabenbereiche sind für private Investoren nicht attraktiv. Auch der IWF empfiehlt Deutschland in seinen External Sector Reports regelmäßig steigende Investitionen in Klimaschutz und Digitalisierung. Zwar partizipiert der Staat über Einkommenssteuern auch an steigenden Löhnen, aber dies wird nicht ausreichen, um dessen hohen Finanzierungsbedarf für die genannten Aufgaben zu decken.

Dem Staat muss der Zugriff auf wenigstens einen Teil der Überersparnisse der Haushalte mit hohen Einkommen und Vermögen und Unternehmen mit nicht investierten Gewinnen ermöglicht werden. Ein naheliegendes Mittel bei den Haushalten wären höhere Spitzensteuersätze, die Wiedereinführung einer Vermögenssteuer und die Abschaffung von Ausnahmeregeln bei der Erbschaftssteuer. Die betroffenen vermögens- und einkommensstarken Haushalte müssten ihren privaten Verbrauch gar nicht einmal einschränken, denn es würden ja nur Überersparnisse abgeschöpft, die sie aus freier Entscheidung ohnehin weder für ihren Konsum noch für Investitionen verwenden, sondern als Finanzanlagen ins Ausland transferieren. Bei den Unternehmen ist eine Anhebung der Steuern etwas problematischer, denn dies kann auch investierende Unternehmen treffen und dadurch kontraproduktiv wirken. Die Diskussion über eine Übergewinnsteuer hat nicht nur grundsätzliche Widerstände hervorgerufen, sondern auch technische und rechtliche Schwierigkeiten aufgezeigt. Bei den Unternehmen könnte man an eine Kombination aus einer leichten Anhebung der Steuersätze mit großzügigen Abschreibungsregelungen für Investitionen denken.

Eine für die betroffenen Haushalte und Unternehmen verträglichere Form der Finanzierung wäre die Staatverschuldung. Der Staat würde ihnen anbieten, die überschüssigen Ersparnisse auf freiwilliger Basis in Form verzinslicher Staatsanleihen abzunehmen. Die vermögenden Haushalte und Unternehmen könnten selbst entscheiden, ob sie ihre Ersparnisse dem deutschen Staat zur Verfügung stellen oder lieber ins Ausland transferieren. Wenn sie dazu nicht bereit sind, könnte der Staat sich auch bei ausländischen Kapitalgebern verschulden. Für die Zahlungsbilanz und das Nettoauslandsvermögen würde dies keinen Unterschied machen. Wenn die Schuldenbremse nicht angetastet werden soll, dann könnte man auch über Fondslösungen außerhalb des staatlichen Haushalts nachdenken, die mit der Schuldenbremse kompatibel sind. Investitionen in Verkehrsinfrastrukturen oder Bildung erwirtschaften einen Ertrag, der den Kapitaldienst abdeckt und keine Lasten auf zukünftige Generationen abwälzt. Andere Länder mit langjährigen Leistungsbilanzüberschüssen praktizieren dies bereits, u.a. über Staatsfonds, die einen Großteil dieser Überschüsse absorbieren.[16] Deutschland sollte solche Modelle genau prüfen und gegebenenfalls übernehmen.

Die Ampel-Koalition hat sich auf Druck der FDP jedoch sowohl gegen eine Anhebung von Steuern als auch gegen eine Neuverschuldung entschieden, die über die Schuldenbremse hinausgeht. Mit dieser dogmatischen Haltung wird sich am Leistungsbilanzüberschuss, an den Überersparnissen und dem damit einhergehenden Kapitalabfluss ins Ausland nichts ändern. Der Staat wird dann an seinen Ansprüchen im Klimaschutz und in anderen Bereichen scheitern, obwohl die volkswirtschaftlichen Ressourcen dazu vorhanden sind.

Gegen die vorgestellte Lösung wird vielfach auch eingewandt, dass die Kapazitäten für zusätzliche Aufgaben und Ausgaben nicht vorhanden seien, dass insbesondere die Fachkräfte für Investitionen und Mehrausgaben etwa im Klimaschutz oder Bildungssektor fehlten und schon aus diesem Grunde an anderen Stellen gespart werden müsse. Dies ist aber ein Trugschluss. Die vorgeschlagenen Maßnahmen zielen darauf ab, den Leistungsbilanzüberschuss und insbesondere den Exportüberschuss zu senken und möglichst zu einem Ausgleich zu führen. Dies bedeutet niedrigere Exporte und/oder höhere Importe. Höhere Importe gehen nicht zu Lasten einheimischer Produktionskapazitäten und Fachkräfte, sondern nehmen – vielfach untergenutzte – Kapazitäten der Importländer in Anspruch. Sinkende Exporte machen Produktionskapazitäten in den Exportindustrien, z.B. in der Automobilindustrie, zugunsten von Produkten frei, die für den Klimaschutz benötigt werden, wie zum Beispiel Wärmepumpen, Photovoltaikanlagen oder Windräder. Begrenzte Produktionskapazitäten und Fachkräftemangel sind vielmehr zusätzliche Argumente für eine Verringerung des Exportüberschusses, denn dieser bindet in erheblichem Umfang Kapazitäten, die auch für andere Zwecke genutzt werden können.

Schwieriger dürfte der Mentalitätswandel werden, der mit einer Abkehr von der typisch deutschen Exportorientierung einhergehen muss. Die deutsche Industrie zieht ihren Stolz und ihr Selbstbewusstsein aus den Exporterfolgen, auch wenn sie diese einem unverdienten Wettbewerbsvorteil in einer Währungsunion verdankt, die Aufwertungen unmöglich gemacht hat. Dies wird durch ein leistungsfähiges System der Außenwirtschaftsförderung unterstützt, zu dem u.a. die bundesfinanzierte Außenwirtschaftsorganisation GTAI – Germany Trade and Invest, die Auslandshandelskammern, die Außenwirtschaftsorganisationen der Länder sowie Finanzierungshilfen der KfW, Euler Hermes und die Förderbanken der Länder zählen. Wenn eine weitere Steigerung der Exporte aber nicht mehr sinnvoll ist, sondern mehr Importe erwünscht sind, liegt es nahe, auch die Außenwirtschaftsförderung entsprechend auf Importförderung umzustellen, zumindest aber zu ergänzen. Die genannten Organisationen sollten künftig nicht nur deutschen Exportunternehmen durch Beratung und Finanzierungshilfen bei der Erschließung von Auslandsmärkten unterstützen, sondern vergleichbare Hilfen auch ausländischen Unternehmen anbieten, die erstmals nach Deutschland liefern möchten, zum Beispiel durch Beratung bei der Teilnahme an öffentlichen Ausschreibungen oder bei technischen Normen. So könnten vermehrt mittelständische Bauunternehmen aus Ländern mit überschüssigen Kapazitäten wie Spanien oder Italien an Infrastrukturaufträge in Deutschland herangeführt werden, ohne dass einheimische Kapazitäten in Anspruch genommen werden müssen.

Diesem notwendigen Mentalitätswandel steht aber auch im Wege, dass die Importabhängigkeit bei vielen Produkten in Deutschland zunehmend kritischer gesehen wird. Lieferengpässe bei pharmazeutischen Grundstoffen, Halbleitern, Solarzellen und kritischen Rohstoffen und geopolitisch begründete Ängste vor zu großen Abhängigkeiten von bestimmten Lieferländern wie China haben Forderungen verstärkt, bisher importierte Produkte wieder vermehrt in Deutschland herzustellen. Sinkende Importe erhöhen jedoch die Exportüberschüsse. So sehr eine Importsubstitution bei bestimmten Produkten aus Gründen einer stärkeren wirtschaftlichen Resilienz nachvollziehbar ist, so wenig passt dies zur notwendigen Senkung des Leistungsbilanzüberschusses. Eine Lösung könnte darin bestehen, die Fertigung kritischer Importgüter nicht nach Deutschland zurückzuholen, sondern im europäischen Ausland zu produzieren oder die Abhängigkeit von bestimmten Lieferländern durch Diversifizierung der Importländer zu verringern. 

Wenn Deutschland sein Produktionspotenzial und zusätzlich seine hohen Vermögenseinkünfte aus dem Ausland künftig für seine Bedarfe im Klimaschutz und anderen wichtigen politischen und gesellschaftlichen Aufgabenfedern nutzen will, dann muss es sein Denken in zwei Bereichen grundlegend ändern. Erstens muss es sich von der Auffassung verabschieden, dass Sparen eine Tugend ist. Deutschland hat zu hohe Ersparnisse und versteht es nicht, diese finanziellen Mittel für seine prioritären Ziele zu nutzen. Solange die private Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern zu schwach ist, um die im Inland gebildeten Ersparnisse vollständig zu absorbieren, führt kein Weg daran vorbei, dass der Staat diese entweder als Steuern oder als Kredite absorbiert. Dazu gehört auch anzuerkennen, dass die Konzentration der Überersparnisse bei wenigen überdurchschnittlich gutverdienenden und vermögenden Haushalten und gewinnträchtigen Unternehmen Teil des Problems ist.[17] Dies ist eine Frage der ungleichen Einkommens- und Vermögensverteilung, die nicht nur unter dem Aspekt der sozialen Gerechtigkeit, sondern auch einer funktionsfähigen gesamtwirtschaftlichen Ressourcenallokation kritischer beleuchtet werden sollte. Die Verweigerungshaltung von Bundesfinanzminister Lindner sowohl gegenüber höheren Steuern als auch gegenüber einer höheren staatlichen Kreditaufnahme blockiert notwendige Investitionen in die Zukunft des Landes. Die Passivität der Ampel-Koalition ist in dieser Frage sehr widersprüchlich.

Deutschland muss sich zweitens auch von seiner Exportfixierung lösen. Für die Zukunft des Landes sind nicht mehr Exporte, sondern vielmehr steigende Importe nötig. Das erfordert ein Umdenken in vielen Bereichen der Politik.

Wenn man den Begriff der „Zeitenwende“ in der Wirtschafts- und Finanzpolitik bemüht, wie es der Präsident des Bundesrechnungshofs tat, dann sollte es ein Mentalitätswandel vom überzogenen Sparen zu höheren Investitionen und von einer Export- zu einer Importorientierung sein. Dessen ebenso überflüssige wie radikale Sparforderungen führen genau in die falsche Richtung.


[1] Bundesrechnungshof (2023): Kontrollverlust bei den Bundesfinanzen verhindern, Handlungsfähigkeit sichern, Verkrustung des Haushalts aufbrechen. Stellungnahme zur Aufstellung der Eckwerte für den Bundeshaushalt 2024 und die Finanzplanung 2025 bis 2027 sowie für das Haushaltsaufstellungsverfahren, Bonn 01.03.2023

[2] Grundsätzlich könnte eine Volkswirtschaft auch mehr produzieren als das Bruttoinlandsprodukt, wenn nicht alle Produktionsfaktoren vollbeschäftigt sind, also zum Beispiel Arbeitslosigkeit herrscht. Die grundsätzlich mögliche maximale Produktion einer Volkswirtschaft wird als Produktionspotenzial bezeichnet und ist vor allem für kurzfristige Konjunkturanalysen wichtig. Hier wird aber vereinfacht das Bruttoinlandsprodukt als die maximal verteilbare Menge an Gütern und Dienstleistungen angenommen.

[3] Diese Daten entstammen der Statistik der Auslandsvermögen und -verschuldung der Deutschen Bundesbank. Zu berücksichtigen ist, dass der Kreis der von der Bundesbank erfassten Vermögenswerte 2010 um Finanzderivate erweitert wurde, was den Anstieg bei den Auslandsvermögen und -verbindlichkeiten etwas überzeichnet.

[4] Hierzu zählen auch die Target2-Salden in der Bundesbankbilanz in Höhe von derzeit 1,1 Billionen Euro. Dies sind bei der Bundesbank aufgelaufene Einlagen, die aus Exporterlösen deutscher Unternehmen und sonstigen Sichtguthaben stammen und in der Bundesbankbilanz als Forderungen gegenüber der EZB bilanziert werden. Über deren Bewertung im Rahmen des Eurosystems ist in den vergangenen Jahren immer wieder kontrovers diskutiert worden. Kritisch äußerte sich insbesondere Hans-Werner Sinn (2018): Fast 1000 Mrd. Target-Forderungen der Bundesbank: Was steckt dahinter? ifo-Schnelldienst, Heft 14/2018. Eine Gegenposition vertreten Martin Hellwig und Isabell Schnabel (2019): Verursachen Target-Salden Risiken für die Steuerzahler? Wirtschaftsdienst Heft 8/2019. Für die hier interessierende Fragestellung der Entstehung und Bewertung von Leistungsbilanzüberschüssen ist diese Kontroverse von untergeordneter Bedeutung, da es für diese unerheblich ist, ob ei auf Konten der Bundesbank oder anderer Finanzinstitute liegen.  

[5] Der Einfachheit halber werden die Finanziellen und die Nicht-Finanziellen Kapitalgesellschaften in Abbildung 4 zu einem Sektor „Unternehmen“ zusammengefasst, da deren Unterscheidung für unser Fragestellung keine große Bedeutung hat. Zu beachten ist auch, dass die Privaten Haushalte hier sehr weit gefasst sind. Sie umfassen nicht nur zusätzlich auch die Organisationen ohne Erwerbscharakter, das sind u.a. Kirchen, Parteien, Verbände, Gewerkschaften), sondern auch Einzelunternehmer, darunter Freiberuflerinnen, Landwirte oder Solo-Selbständige. Das wesentliche Unterscheidungsmerkmal zwischen den Unternehmen und den Privaten Haushalte ist zwar, dass erstere investieren und produzieren, während letztere konsumieren. Da Einzelunternehmen wirtschaftlich aber zugleich Private Haushalte und Unternehmen sie sich für statistische Zwecke nur schwer auf beide Aggregate aufteilen lassen, werden sie einheitlich bei den Privaten Haushalten mitgezählt. Das hat zur Folge, dass sie auch eine signifikante wirtschaftliche Wertschöpfung Investitionen aufweisen, wobei dazu aber auch die Wohnungsbauinvestitionen der Privaten Haushalte zählen. Gleiches gilt für die Organisationen ohne Erwerbscharakter. 

[6] Das Jahr 1995 war ein Sonderfall. In diesem Jahr wurden die hohen Schulden der Treuhandanstalt aus dem Unternehmenssektor auf den Staat übertragen, wodurch die Schulden des Staates stark erhöht und diejenigen der Unternehmen stark gemindert wurden.

[7] Eigene Berechnung auf Grundlage der Einkommens- und Verbrauchsstichprobe des Statistischen Bundesamtes für 2021. Statistisches Bundesamt: Einkommens und Einnahmen sowie Ausgaben privater Haushalte (Laufende Wirtschaftsrechnungen): Deutschland, Jahre, Haushaltsnettoeinkommensklassen (63121-0003).

[8] International Monetary Fund (2022): External Sector Report. Pandemic, War and Global Imbalances, Washington D.C. 2022.

[9] Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (2014): Mehr Vertrauen in Marktprozesse. Jahresgutachten 2014/15. https://www.sachverstaendigenrat-wirtschaft.de/fileadmin/dateiablage/gutachten/jg201415/JG14_ges.pdf

[10] Wissenschaftlicher Beirat beim Bundesministerium für Wirtschaft und Energie (2019): Wirtschaftspolitische Probleme der deutschen Leistungsbilanz. https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Publikationen/Ministerium/Veroeffentlichung-Wissenschaftlicher-Beirat/gutachten-wissenschaftlicher-beirat-wirtschaftspolitische-probleme-der-deutschen-leistungsbilanz.pdf?__blob=publicationFile&v=1

[11] Weitere von Sorglosigkeit gegenüber den Leistungsbilanzüberschüssen geprägte wirtschaftswissenschaftliche Stellungnahmen in dieser Phase waren Erber, Georg (2012): Irrungen und Wirrungen mit der Leistungsbilanzstatistik. Wirtschaftsdienst, Heft 7/2012 und Grömling, Michael/ Matthes, Jürgen/ Peters, Heiko, Philipp, Markus/ Lindner, Fabian (2016): Der deutsche Leistungsüberschuss: Fluch oder Segen? Wirtschaftsdient, Heft 11/2016. Kritisch äußerten sich dagegen Priewe, Jan (2018): A Time Bomb for the Euro? Understanding Germany’s Current Account Surplus. Hans-Böckler-Stiftung sowie Behringer, Jan/ van Treeck, Till/ Truger, Achim (2020): Das deutsche Modell: Wie kann der Leistungsbilanzüberschuss abgebaut werden? Wirtschaftsdienst, Heft 10/2020.

[12] So äußern sich u.a. Klein, Matthew C./ Pettis, Michael (2020): Trade Wars Are Class Wars. How Rising Inequality Distorts the Global Economy And Threatens International Peace, New Haven & London, S. 160ff.

[13] So sehen es zum Beispiel Krugman, Paul (2013): German Surpluses: This Time is Different, New York Times, 02. Nov. 2013; Klein, Matthew C./ Pettis, Michael (2020): Trade Wars Are Class Wars. How Rising Inequality Distorts the Global Economy And Threatens International Peace, New Haven & London. In einer 2016 durchgeführten Befragung europäischer Wirtschaftsprofessoren stimmten 69 % der Befragten der Auffassung zu, dass die deutschen Leistungsbilanzüberschüsse eine Bedrohung für die Eurozone darstellen, siehe Reis, Ricardo/ McMahon, Michael/ Ellison, Martin/ Ilzetzki, Ethan/ Den Haan, Wouter (2016): The danger of Germany’s current account surpluses: Results oft he CFM and CEPR Survey, VoxEU, 27. Okt. 2016.

[14] Diese These wird explizit zum Beispiel in Klein, Matthew C./ Pettis, Michael (2020): Trade Wars Are Class Wars. How Rising Inequality Distorts the Global Economy And Threatens International Peace, New Haven & London vertreten.

[15] Für eine neue Denkschule in der Volkswirtschaft, der Modern Monetary Theory, scheint diese Frage in der Tat trivial zu sein. Danach kann und soll die Notenbank dem Staat unter Beachtung des volkswirtschaftlichen Produktionspotenzials und des Vollbeschäftigungsziels so viele Ausgaben tätigen, wie dieser, ohne inflationstreibend zu wirken, für seine öffentlichen Aufgaben benötigt. Siehe dazu z.B. Höfgen, Maurice (2020): Mythos Geldknappheit. Modern Monetary Theory oder Warum es am Geld nicht scheitern muss, Stuttgart. Auch wenn dieser neue Denkansatz einige innovative Impulse liefert, besitzt er doch auch zahlreiche Schwächen, weswegen hier nicht weiter damit gearbeitet wird.

[16] Ein Best-Practice-Beispiel ist der norwegische Staatsfonds, mit dem die Altersversorgung auf eine solide finanzielle Basis gestellt wird. Andere Beispiele sind in den Golfstaaten und in Singapur zu finden.

[17] Dies ist das zentrale Argument von Klein, Matthew C./ Pettis, Michael (2020): Trade Wars Are Class Wars. How Rising Inequality Distorts the Global Economy And Threatens International Peace, New Haven & London

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