Russland-Sanktionen: Exportverbote wirksamer als Importrestriktionen (DE)

Nach dem Beginn des völkerrechtswidrigen Angriffskriegs Russlands gegen die Ukraine am 24. Februar 2022 wurden die weitreichendsten Wirtschaftssanktionen seit dem 2. Weltkrieg verhängt. Vielfach werden ihre Wirkungen bezweifelt. Bei genauer Betrachtung der Außenhandelsdaten zeigt sich jedoch, dass vor allem Exportverbote von technologieintensiven Gütern Russland schon jetzt in eine prekäre Lage gebracht haben und bei gezielterem und konsequenterem Einsatz weiter destabilisieren könnten. Die mit hohen Erwartungen verbundenen Einfuhrbeschränkungen für Öl und andere Rohstoffe konnten Russland dagegen wenig schaden.

Schon nach der Annexion der Krim hatten die USA, die EU, die übrigen G7- und sonstige westliche Industrieländer den Export von Rüstungsgütern und Dual-Use-Gütern, also von Waren, die sowohl für zivile als auch für militärische Zwecke genutzt werden können, nach Russland verboten. Diese Sanktionen wurden nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Februar 2022 schrittweise durch mehrere Sanktionspakete erheblich erweitert. Sie umfassen insbesondere

  • Einreiseverbote für russische Spitzenpolitiker*innen, militärische Befehlshaber und Oligarchen und das Einfrieren von Vermögenswerten,
  • ein Verbot von Transaktionen mit der russischen Zentralbank und das Einfrieren ihrer bei westlichen Banken gehaltenen Währungsreserven im Volumen von 300 Mrd. US-Dollar,
  • den Ausschluss russischer Banken aus dem internationalen Zahlungssystem SWIFT,
  • ein Verbot des Überflugs des EU-Luftraums für russische Flugzeuge und des Zugangs zu den Flughäfen in der EU sowie Einreiseverbote für russische Lastkraftwagen,
  • Einfuhrverbote für Rohöl und Mineralölerzeugnisse sowie weitere Roh- und Grundstoffe und eine Preisobergrenze für russisches Öl, die bei Verkehrs- und Versicherungsdienstleistungen zu beachten ist,
  • Ausfuhrverbote für zahlreiche Güter, darunter Spitzentechnologie, bestimmte Arten von Maschinen und Fahrzeugen, Luft- und Raumfahrttechnologie, Seeschiffe, Ausrüstungen für die Energie- und Mineralölwirtschaft, Güter mit doppeltem Verwendungszweck („Dual Use“), Investitionsgüter, die die russische Industriekapazität stärken können, und eine lange Liste von Luxusgütern.

Maßgebliche Rechtsgrundlage in der EU ist die im Jahr 2014 beschlossene und durch die verschiedenen Sanktionspakete fortgeschriebene und erweiterte Ratsverordnung (EU) Nr. 833/2014. Viele der verhängten Sanktionen erstrecken sich auch auf Belarus. Neben den USA, der EU und den übrigen G7-Ländern haben sich auch die Schweiz, Norwegen, Island, Australien, Neuseeland, Südkorea, Taiwan und Singapur den Sanktionen mit ähnlichen Maßnahmen angeschlossen. Diese Länder repräsentieren zusammen knapp 60 % des weltweiten BIP und des internationalen Handels und haben damit hohes wirtschaftliches Gewicht.

In den Medien, in politischen Kreisen, aber auch in wissenschaftlichen Arbeiten wird die Wirksamkeit der Sanktionen vielfach bezweifelt. Begründet wird dies insbesondere mit der unerwartet hohen wirtschaftlichen Stabilität Russlands seit Kriegsbeginn. Im Jahr 2022 sank das russische BIP nur geringfügig um 2,1 %. Für 2023 rechnet der Internationale Währungsfonds (IWF) mit einem Wachstum von 2,2 % und für 2024 von 1,1 %. Die Inflationsrate lag 2022 bei 13,8 % und wird sich nach IWF-Prognosen 2023 auf 5,3 bzw. 2024 auf 6,3 % zurückbilden.[1] Die Stabilisierung der russischen Wirtschaft und die Resistenz gegenüber den verhängten Sanktionen wird meist auf die gestiegenen Erlöse aus den Rohstoffexporten zurückgeführt, die die Kriegskasse des russischen Staats gut gefüllt hatten. Der russische Staatshaushalt wuchs 2022 nominal um 17 % und 2023 um weitere 4 %. Entschlossenes Eingreifen der russischen Zentralbank mit einer drastischen Zinssteigerung und scharfen Kapitalverkehrskontrollen, so das Narrativ, konnte den vorübergehenden Absturz des Rubel-Kurses unmittelbar nach Kriegsbeginn korrigieren. Seit Ende 2022 hat der Rubel aber wieder stark an Wert verloren. Insgesamt sind die Wirtschaftsdaten trotzdem so stabil, dass häufig die Schlussfolgerung gezogen wird, die beschlossenen Sanktionen gegen Russland hätten nicht gefruchtet.

Eine mangelnde Wirksamkeit wird auch damit begründet, dass immer wieder von Sanktionen erfasste Waren nach Russland gelangen. Beispiele sind Halbleiter westlicher Hersteller in russischen Raketen und Drohnen, die in der Ukraine einschlugen, oder in russischen Rüstungsbetrieben gesichtete Werkzeugmaschinen aus Deutschland, Italien oder Japan. Sie werden als Beleg für dunkle Lieferkanäle nach Russland gewertet, mit denen die verhängten Sanktionen umgangen werden.

Das Zusammenspiel von Import- und Exportsanktionen

Bei diesen Argumentationen wird oft nicht hinreichend zwischen Import- und Exportsanktionen unterschieden. Diese beiden Instrumente stellen auf zwei unterschiedliche Wirkungskanäle ab. Mit Importsanktionen wird versucht, die russischen Exporterlöse aus dem Verkauf von Rohstoffen, vor allem von Öl und Gas, zu verringern. Die Einnahmen aus Öl- und Gaslieferungen fließen über die russischen Rohstoffunternehmen durch die von ihnen zu leistenden Abgaben zu einem erheblichen Teil in die russische Staatskasse. Mit einem Stopp der Öl- und Gasimporte aus Russland soll Putins Kriegskasse ausgetrocknet und die finanziellen Mittel für die Beschaffung der Raketen, Minen, Panzern und Munition und für die Besoldung der Soldaten gekappt werden.

In den ersten Monaten nach Kriegsbeginn, als Russland noch Gas in die EU lieferte, wurden heftige, teilweise sehr emotionale Debatten in Deutschland und anderen Ländern geführt, ob und inwieweit Gasimporte die russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine indirekt fördern und begünstigen. Mehrere Ökonomen hatten in einer viel diskutierten Studie bereits wenige Tage nach Kriegsbeginn die Auffassung vertreten, ein sofortiges Gasembargo brächte nur geringe Wachstumseinbußen in Deutschland und sei daher ökonomisch handhabbar.[2] Andere Studien hatten dagegen vor sehr hohen Wachstums- und Arbeitsplatzverlusten gewarnt.[3] Aus der eher optimistischen Studie zu den Folgen eines schnellen Gasembargos (Bachmann 2022) wurde vielfach die Schlussfolgerung gezogen, Deutschland könne mit einem schnellen Stopp der Gas- und Öleinfuhren aus Russland einen effektiven Beitrag zur raschen Beendigung des Kriegs leisten, ohne dass dies hohe Kosten verursacht. Umgekehrt würde eine Fortsetzung des Gasbezugs aus Russland das Leiden der Menschen in der Ukraine unnötig verlängern. Diese Frage wurde letztlich durch die schrittweise Verringerung und vollständige Beendigung der Gaslieferungen nach dem Anschlag auf die Nordstream-Pipeline von Russland selbst entschieden. Da russisches Pipeline-Gas noch ein halbes Jahr lang nach Ausbruch des Kriegs geliefert wurde, wenn auch in verringertem Umfang, hatten Wirtschaft und Haushalte mehr Zeit, um sich auf die veränderte Angebotssituation einzustellen. Außerdem konnten die Gasspeicher über den Sommer 2022 wieder aufgefüllt werden. Ob ein schnelles Gasembargo nach Kriegsbeginn ohne größere Störungen möglich gewesen wäre, lässt sich daher nicht leicht beantworten. Eine weitere Studie eines Teils derselben Autorengruppe sah sich eineinhalb Jahre nach Kriegsbeginn dennoch in ihrer Auffassung bestätigt.[4] Alle Studien hatten jedoch die Folgen eines Gaslieferstopps aus Russland für die Inflation unberücksichtigt gelassen, auf die die EZB mit einer drastischen Anhebung des Leitzinses reagierte, der jetzt das Wachstum im gesamten Euro-Raum abbremst. Eine Bewertung der Machbarkeit eines schnellen Gasembargos müsste daher auch der Frage nachgehen, ob die Inflation hierdurch nicht noch stärker gestiegen wäre.

Wichtiger für die Frage der Wirksamkeit von Importsanktionen ist jedoch, ob Russland ohne die Einnahmen aus den Gaslieferungen nach Deutschland und in andere europäische Länder tatsächlich an der unverminderten Fortsetzung des Kriegs gegen die Ukraine effektiv gehindert worden wäre. Zur Beantwortung dieser Frage ist es hilfreich, die russische Leistungs- und Zahlungsbilanz näher zu beleuchten. Die russischen Öl- und Gasexporte führen im ersten Schritt zu steigenden Deviseneinnahmen. Diese müssen die russischen Energieunternehmen über den Bankensektor in Rubel umtauschen, damit sie ihre inländischen Zahlungsverpflichtungen, darunter auch die Abgaben an den Staat, bedienen können.[5] Wie auch immer dieser Umtausch abgewickelt wird, führt dies bei irgendeiner Stelle der russischen Volkswirtschaft, meist bei den Banken, zu steigenden Devisenbeständen zulasten ihrer Rubel-Konten. Die Devisen können nur zur Begleichung von Importrechnungen oder zur Verringerung von Auslandsverbindlichkeiten verwendet werden oder sie erhöhen das Auslandsvermögen. Russland profitiert durch seine Gas- und Ölexporte daher zunächst einmal nur dadurch, dass es mehr Güter importieren kann. Als indirekter Effekt kommt hinzu, dass sich dadurch auch der Rubel-Kurs und darüber die Preise für Importgüter stabilisieren lassen. Exporte erweitern jedoch nicht das inländische Produktionspotenzial. Realwirtschaftlich nutzen die Exporterlöse Russland daher vor allem, wenn es sie für höhere Importe verwendet. Der russischen Kriegskasse hilft das nur, wenn damit Rüstungsgüter oder Maschinen zu deren Fertigung aus dem Ausland importiert werden. Das wollen aber die USA, die EU und ihre Verbündeten mit Exportverboten von kriegswichtigen Gütern verhindern.

Deshalb ist es wichtig, die unterschiedlichen Wirkungskanäle von Import- und Exportsanktionen auseinanderzuhalten. Mit Importsanktionen sollen Russland die finanziellen Mittel zum Import von Rüstungsgütern und sonstigen für die Kriegswirtschaft notwendigen Produkten beschnitten werden. Ziel von Exportverboten ist es dagegen, ihm den Zugang dazu unmittelbar zu verwehren. Exportsanktionen wirken also direkt, während Importsanktionen einen Umweg über die Verringerung der Zahlungsfähigkeit im Ausland gehen. Exportsanktionen ermöglichen es den sanktionierenden Ländern zudem, genau festzulegen, welche Güter sie dem sanktionierten Land vorenthalten und welche sie weiter liefern möchten, wie zum Beispiel Nahrungsmittel, Pharmazeutika und Medizintechnik, deren Verkauf nach Russland aus humanitären Gründen weiterhin zulässig ist. Bei reinen Importsanktionen, die nicht durch Exportverbote ergänzt werden, könnte Russland selbst entscheiden, ob es die verringerten Deviseneinnahmen zum Import von Waffen oder von Nahrungsmitteln verwendet. Importsanktionen allein können also nicht garantieren, dass das sanktionierte Land keine Rüstungsgüter mehr im Ausland kaufen kann, sondern dazu sind produktspezifische Exportverbote notwendig. Deren Wirkung ist andererseits eingeschränkt, wenn sich nicht alle Länder an den Sanktionen beteiligen und wie zum Beispiel China weiterliefern oder für Ersatz sorgen.

Dabei ist auch zu berücksichtigen, dass Importsanktionen vor allem bei Rohstoffen erhebliche negative humanitäre Folgen für Drittländer haben können, insbesondere für Entwicklungsländer. Denn die sanktionierenden Länder verzichten ja nicht gänzlich auf die betroffenen Rohstoffe, sondern weichen auf andere Anbieter aus, die ihre Lieferungen an Drittländer reduzieren, wenn sie ihre Förderung nicht ausweiten können oder wollen. Die dadurch eintretende Angebotsverknappung führt zu Preissteigerungen, die alle Nachfrager tragen müssen und diejenigen aus dem Markt verdrängen, die die niedrigste Zahlungsfähigkeit besitzen. Dies sind vor allem Entwicklungsländer. Genau dies ist nach dem Lieferstopp für russisches Gas geschehen. Deutschland war im Spätsommer 2022 bereit, zur Auffüllung seiner Gasreserven auf dem Weltmarkt Gaspreise zu zahlen, bei denen andere Nachfrager, vor allem Entwicklungsländer, nicht mehr mithalten konnten.

Beim Öl verhielt es sich anders, da dieser Markt viel größer ist und flexibler auf Nachfrageänderungen reagiert. Die EU-Länder ersetzten russisches Öl durch Einfuhren vor allem aus dem Nahen Osten und Afrika. Diese reduzierten ihre Liefermengen nach Indien und in andere Entwicklungsländer, die dafür das von den EU-Ländern nicht mehr nachgefragte russische Öl kauften. Die auf dem Weltmarkt gehandelten Mengen blieben unverändert, die Weltmarktpreise stiegen, nur Russland musste Preisabschläge hinnehmen, wovon dessen neue Kunden in Indien und anderen Teilen Asiens und Afrikas profitierten. Und die Europäer konnten ein gutes Gewissen haben, weil sie ja kein russisches Öl mehr verbrauchten und nicht mehr in die russische Kriegskasse einzahlten.

Hieran setzten die EU und die übrigen Sanktionsländer mit ihrer Ende 2022 beschlossenen Preisobergrenze von 60 US-Dollar pro Barrel für russisches Öl an. Transport- und Versicherungsdienstleistungen dürfen seither nur dann noch für russische Öllieferungen erbracht werden, wenn diese Schwelle nicht überschritten wird. Ziel ist es, das russische Öl mit einem Anteil von ca. 10 % der weltweiten Exporte mengenmäßig im Weltmarkt zu halten, um eine Angebotsverknappung mit allgemein steigenden Ölpreisen und deren nachteiligen wirtschaftlichen Folgen zu vermeiden, aber die Gewinne der russischen Ölanbieter zu beschneiden. Das funktionierte einige Zeit auch recht gut, bis im Frühsommer 2023 die Ölpreise aufgrund reduzierter Fördermengen wieder anzogen, wovon auch Russland profitierte.

Dabei ist fraglich, ob Importverbote für Güter, deren weltweite Angebotsmenge aus humanitären oder weltwirtschaftlichen Gründen nicht vermindert werden soll, überhaupt sinnvoll und praktikabel sind. Wenn die Fördermenge und damit das Angebot auf dem Weltmarkt nicht sinken und der Weltmarktpreis stabil bleiben soll, dann muss jemand das russische Öl kaufen und dafür zahlen. Es ist dann von sekundärer Bedeutung, wer dies tut. Entscheidend ist, dass der Ölpreis begrenzt wird.

Russische Zahlungsbilanz: Wie sind die Leistungsbilanzüberschüsse verwendet worden?

Unabhängig davon stellt sich die Frage, ob die noch bis weit in die zweite Hälfte des Jahres 2022 fortwährenden außerordentlich hohen Einnahmen aus Öl- und Gasexporten Russland tatsächlich dabei geholfen haben oder gar notwendig waren, um den Krieg in der Ukraine zu finanzieren. Eine Antwort hierauf liefert die russische Leistungsbilanz. Die Exporterlöse Russlands summierten sich im Jahr 2022 auf 593 Mrd. US-Doller (blaue Säulen in Abbildung 1), die Importe beliefen sich auf 277 Mrd. US-Dollar (rote Säulen). Die Handelsbilanz wies damit einen Überschuss von 316 Mrd. US-Dollar auf. Sonstige Zahlungsverpflichtungen, die in die Leistungsbilanz eingehen (Dienstleistungsverkehr, grenzüberschreitende Zahlungen für Arbeits- und Vermögenseinkünfte und Transferzahlungen), beliefen sich auf insgesamt 78 Mrd. US-Dollar (graue Linie). Nach deren Abzug verblieb ein Leistungsbilanzüberschuss von 238 Mrd. US-Dollar (schwarze Linie).[6]  Bedingt durch die Öl- und Gaspreissteigerungen stieg der Leistungsbilanzüberschuss bis zum zweiten Quartal 2022 kontinuierlich auf einen Rekordwert von 77 Mrd. US-Dollar an und verringerte sich anschließend wieder bis zum zweiten Quartal 2023 auf einen Wert von 10 Mrd. US-Dollar.

Abbildung 1: Handels- und Leistungsbilanz der Russischen Föderation in Mrd. US-Dollar, Q1/20 – Q2/23

Quelle: International Monetary Fund: Balance of Payments and International Investment Statistics (BOP/IIP)


Die seit 2020 kontinuierlich gestiegenen russischen Leistungsbilanzüberschüsse waren primär eine Folge höherer Exporterlöse, die durch die Rohstoffpreise getrieben wurden, während die Importe keine ausgeprägt steigende Tendenz aufwiesen. In der ersten Jahreshälfte 2022, also um den Zeitpunkt des Kriegsbeginns, lagen die russischen Importe etwas unter dem langfristigen Trend, in den darauffolgenden Quartalen erreichten sie nicht mehr den Spitzenwert aus dem 4. Quartal 2021. In den ersten beiden Quartalen des Jahres 2023 waren die Exporterlöse um ca. ein Drittel niedriger als in den vorherigen Quartalen. Die wieder gesunkenen Ölpreise hatten den Höhenflug der russischen Exporteinnahmen beendet und wieder auf ein langjähriges Normalmaß zurückgeführt. Die russischen Importe veränderten sich in der ersten Hälfte des Jahres 2023 dagegen nur wenig gegenüber den Vorquartalen.

Der exorbitante Leistungsbilanzüberschuss von 238 Mrd. US-Dollar im Jahr 2022 bedeutet nun aber, dass fast die Hälfte der russischen Einnahmen aus dem Exportgeschäft nicht für Wareneinfuhren oder zur Bedienung sonstiger Zahlungsverpflichtungen im Ausland ausgegeben wurde. Ein hoher Leistungsbilanzüberschuss mag zwar ein Ausdruck wirtschaftlicher Stärke eines Landes sein und ihm finanzielle Sicherheit verleihen (sofern das Vermögen nicht durch Sanktionsbeschlüsse eingefroren wird), aber er fällt gerade deshalb so hoch aus, weil die Exporterlöse eben nicht für die Einfuhr wichtiger Rüstungs- und anderer Güter eingesetzt wurden. Das liegt sicher nicht an der Sparsamkeit der russischen Volkswirtschaft, sondern ist ein erster und starker Hinweis auf die Wirksamkeit der von EU, USA und anderen verhängten Exportsanktionen. Russland verfügt durch seine Rohstoffexporte zwar über die finanziellen Mittel für höhere Einfuhren, wird aber durch die Sanktionen daran gehindert, sie hierfür zu verwenden.

Abbildung 2: Leistungs- und Zahlungsbilanz Russlands 2022: Zu- und Abflüsse nach Anlagearten in Mrd. US-Dollar

Quelle: International Monetary Fund: Balance of Payments and International Investment Statistics (BOP/IIP)


Wenn der russische Leistungsbilanzüberschuss nicht für höhere Einfuhren verwendet wurde, wohin ist er dann geflossen? Einem Leistungsbilanzüberschuss entspricht spiegelbildlich ein gleich hoher Kapitalexport in der Zahlungsbilanz. Was ein Land realwirtschaftlich als Überschuss gegenüber dem Ausland erwirtschaftet, fließt als Zahlungsbilanzüberschuss definitionsgemäß wieder ins Ausland ab. Nach den vom Internationalen Währungsfonds publizierten Zahlungsbilanzdaten (Abbildung 2) hat Russland im Jahr 2022 zunächst einmal 40 Mrd. US-Dollar als Kompensationszahlungen für Direktinvestitionen und 32 Mrd. US-Dollar für Portfolioinvestitionen (das sind Wertpapiere und sonstige Schuldverschreibungen) aufwenden müssen, die ausländische Anleger nach Ausbruch des Krieges aus Russland abzogen.[7] Zahlreiche in Russland tätige internationale Unternehmen stellten ihre Geschäftstätigkeit ein und verkauften ihre Produktionsstätten, Immobilien und sonstigen Vermögenswerte, wenn auch oft unterhalb ihres Marktwertes, an einheimische Unternehmen und Banken, die dafür 72 Mrd. US-Dollar zahlten. Allerdings haben auch russische Unternehmen ihre Auslandsinvestitionen in westlichen Ländern zurückgefahren und dafür Zahlungen in Höhe von insgesamt 24 Mrd. US-Dollar erhalten, davon 13 Mrd. für Direktinvestitionen und 11 Mrd. für Portfolioinvestitionen. Diese müssen mit den Zahlungen saldiert werden, die an die aus Russland abgewanderten Investoren geleistet wurden. Dadurch verringerte sich der per saldo für sinkende Direkt- und Portfolioinvestitionen aufgebrachte Betrag in der russischen Zahlungsbilanz auf netto 48 Mrd. US-Dollar.

Mit 152 Mrd. US-Dollar floss der überwiegende Teil des Leistungsbilanzüberschusses jedoch unter der Rubrik „Sonstige Finanzanlagen“ auf gewöhnliche Bankkonten im Ausland. Die ausländischen Kontenbestände im Eigentum russischer Anleger stiegen nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds von 410 Mrd. US-Dollar zu Jahresende 2021 auf 549 Mrd. US-Dollar ein Jahr später.[8] Diese Entwicklung setzte sich in der ersten Jahreshälfte 2023 grundsätzlich fort, allerdings in vermindertem Maße, da der Leistungsbilanzüberschuss gesunken war. Die ausländischen Direktinvestitionen in Russland gingen um weitere 9 Mrd. US-Dollar, die Wertpapierbestände in ausländischem Eigentum um 5,5 Mrd. US-Dollar zurück. 22 Mrd. US-Dollar flossen auf die sonstigen Auslandskonten russischer Anleger.

Da Russland seit Beginn des Kriegs wirtschafts- und finanzstatistische Daten nur noch lückenhaft veröffentlicht und auch die Schätzverfahren des Internationalen Währungsfonds hierdurch an Grenzen gestoßen sind, lässt sich die gesamte Verwendung des Leistungsbilanzüberschusses nicht exakt ermitteln. Die genannten Werte für die Abflüsse in der Zahlungsbilanz liegen aber relativ nahe an dem Leistungsbilanzüberschuss, so dass sie die ungefähren Größenordnungen einigermaßen passend wiedergeben dürften. Nicht berücksichtigt sind hierbei insbesondere die inzwischen geheim gehaltenen Währungsreserven der russischen Zentralbank, die vor Kriegsbeginn bei 630 Mrd. US-Dollar lagen und von denen 300 Mrd. durch die verhängten Sanktionen eingefroren wurden. Es ist zu vermuten, dass die sprunghaft angestiegenen Zuführungen zu den sonstigen Finanzanlagen zum großen Teil verdeckte Währungsreserven sind, die die russische Zentralbank bzw. der russische Staat über noch nicht vom internationalen Zahlungsverkehr abgekoppelte Banken auf Konten in befreundeten Ländern oder in Steueroasen deponiert haben.

Auch ein Blick auf den russischen Staatshaushalt zeigt, dass der riesige Leistungsbilanzüberschuss nicht zu erheblich höheren Staatseinnahmen und -ausgaben geführt hat. Zwar stiegen die Staatseinnahmen von 48,1 Billionen Rubel im Jahr 2021 auf 53,2 Billionen Rubel im Jahr 2022, werden 2023 aber voraussichtlich wieder auf 51,7 Billionen Rubel sinken. Die Ausgaben stiegen von 47,1 Billionen Rubel (2021) über 55,2 Billionen (2022) auf voraussichtlich 57,6 Billionen (2023).[9] Berücksichtigt man die Inflationsrate von 13,8 % im Jahr 2022 und 5,3 % im Jahr 2023, dann war bei den Staatseinnahmen real gar kein Wachstum festzustellen und bei den Staatsausgaben nur ein schwaches Wachstum im Jahr 2022. Der Leistungsbilanzüberschuss hat sich also in nur moderaten Steigerungen der staatlichen Einnahmen und Ausgaben niedergeschlagen. Es ist vor diesem Hintergrund sehr unwahrscheinlich, dass ein sofortiges Öl- und Gasembargo Deutschlands und der übrigen Sanktionsländer Russland an der Finanzierung seiner Kriegspläne gehindert und es zur Einstellung der Kampfhandlungen veranlasst hätte. Russland besitzt außerdem noch große Spielräume bei der staatlichen Kreditaufnahme, da der Schuldenstand mit nur 21 % des BIP deutlich unter dem der westlichen Industrieländer liegt. Auch wenn Russland vollständig auf die Erlöse aus Öl- und Gasexporten in die westlichen Sanktionsländer hätte verzichten müssen, hätte es über genügend finanzielle Mittel zur Beschaffung kriegswichtiger Güter aus dem Ausland verfügt. Letztlich begrenzen die Produktionskapazitäten Russlands in der Rüstungsindustrie und die verhängten Exportverbote des Westens für Rüstungs- und Dual Use-Güter eine noch stärkere Aufrüstung.

Exportverbote sind wirksamer als Importsanktionen

Damit rücken die Exportsanktionen der westlichen Industrienationen und ihrer Verbündeten in den Fokus. Sie sind für die Schwächung der russischen Aggression gegen die Ukraine wichtiger und wirksamer als die Importsanktionen. Exportsanktionen zielen darauf ab, Russland unmittelbar den Zugang zu kriegswichtigen Gütern aus westlicher Produktion zu verwehren, ihm Maschinen und Ausrüstungen vorzuenthalten, die für deren Fertigung benötigt werden, und die Infrastruktur und das Transportwesen des Landes zu blockieren. Um deren Wirksamkeit zu prüfen, ist ein differenzierter produktscharfer Blick in die Außenhandelsdaten hilfreich.

Die Wirksamkeit von Exportsanktionen hängt von unterschiedlichen technologischen, wettbewerblichen und politischen Faktoren sowohl in den Ländern, die sie verhängen, als auch in den Zielländern ab.[10] Vielfach scheitern sie an fehlenden oder ungünstigen Voraussetzungen, oft aber auch an unklaren Zielsetzungen und mangelnder Disziplin bei ihrer Überwachung und Durchsetzung. Wichtig ist eine sektorale, möglichst produktspezifische ökonomische Abschätzung der wirtschaftlichen Stärken und Schwächen beider Konfliktparteien und die Analyse möglicher Ausweichreaktionen. Für den Erfolg ist entscheidend, wie abhängig das Zielland der Sanktionen von den von Lieferverboten betroffenen Produkten ist und welche Substitutionsmöglichkeiten es besitzt.

Ein von Sanktionen betroffenes Land wie Russland hat vier Möglichkeiten, hierauf zu reagieren:

Erstens kann es die nicht mehr erhältlichen Güter selbst produzieren, wenn es dazu wirtschaftlich und technologisch in der Lage ist. Russland hat schon nach den Sanktionen, die 2014 wegen der Krim-Annexion verhängt wurden, eine als „Lokalisierung“ bezeichnete Importsubstitutionsstrategie beschlossen, die jedoch nur mäßigen Erfolg hatte. Russische Unternehmen durften in vielen Bereichen nur noch dann Vorprodukte oder Investitionsgüter aus dem Ausland importieren, wenn nicht mindestens zwei russische Anbieter für das benötigte Produkt verfügbar waren. Damit sollte die heimische Industrie geschützt und gefördert werden. Ausländische Unternehmen wurden mit der Aussicht auf Anerkennung als russische Anbieter zu Investitionen in Russland angelockt. Mit solchen Schutzmaßnahmen haben in der Wirtschaftsgeschichte immer wieder sich entwickelnde Volkswirtschaften versucht, Anschluss an die führenden Wirtschaftsnationen zu finden, was in vielen Fällen jedoch nur begrenzten Erfolg hatte und oft mit nachteiligen Nebenwirkungen verbunden war. Sie scheiterten vor allem, wenn die Schutzmaßnahmen – wie die russische „Lokalisierungspolitik“ – zeitlich unbefristet angelegt waren und auf dauerhafte Abkopplung vom Weltmarkt abzielten.

Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion hatte Russland zunächst jedoch eine ganz andere Wirtschaftsstrategie verfolgt. Basierend auf den Empfehlungen der klassischen Außenwirtschaftstheorie strebte Russland die Integration in die internationale Arbeitsteilung und die Ausnutzung ihrer Spezialisierungsvorteile an. Russland sah seine komparativen Vorteile in der Rohstoffförderung und vernachlässigte zu ihren Gunsten die verarbeitende Industrie. Der Export von Öl, Gas und anderen Rohstoffen erbrachte so hohe Erlöse auf dem Weltmarkt, dass es lohnender wurde, die wirtschaftlichen Ressourcen voll auf diese zu konzentrieren und hochwertige Industriegüter mehr und mehr im Ausland zu beschaffen, statt sie selbst zu produzieren. Dies lag auch im Interesse der mächtigen Oligarchen, denen die russischen Energie- und Rohstoffunternehmen gehören, denn sie konnten mit Rohstoffen höhere Gewinne als mit Industriegütern erzielen. Die Folge war, dass Russland seine aus Sowjetzeiten durchaus vorhandenen, wenn auch nicht unbedingt mit den westlichen Industrieländern wettbewerbsfähigen Kompetenzen bei der Produktion u.a. von Flugzeugen, Straßenfahrzeugen, elektronischen Erzeugnissen und Werkzeugmaschinen weitgehend verlor. Diese wieder neu aufzubauen, ist nicht einfach. Es ist daher unwahrscheinlich, dass Russland die von Sanktionen betroffenen technologisch hochwertigen Produkte aus den westlichen Industrieländern in der Breite durch eigene Fertigung ersetzen kann. Die wirtschaftliche und technologische Abkopplung von den führenden Industrienationen wird Russland am Aufbau einer Industrie hindern, die bei Spitzentechnologien international mithalten kann. Russland wird unter diesen Bedingungen nur Produkte minderer Qualität selbst herstellen können. Selbst wenn diese Strategie in Teilbereichen Aussicht auf Erfolg haben sollte, würde dies einen langen zeitlichen Vorlauf benötigen.

Eine zweite Alternative besteht darin, die von Sanktionen betroffenen Produkte aus Ländern zu beschaffen, die sich den Sanktionen nicht angeschlossen haben. Dies ist der am häufigsten vorgebrachte Einwand gegen die Wirksamkeit von Exportsanktionen gegen Russland. Da überwiegend technologisch hochwertige Produkte von den Sanktionen betroffen sind, kommen hierfür nur Länder in Betracht, die die Fähigkeit zu deren Herstellung besitzen und außerdem auch kurzfristig die benötigten Mengen liefern können. Außerhalb der Gruppe der 40 Sanktionsländer trifft dies praktisch nur auf China zu, das technologisch in vielen Bereichen zu den führenden Industrieländern aufgeschlossen hat und aufgrund seiner Größe auch in der Lage ist, die großen Mengen an sanktionierten Gütern zu liefern, die Russland bisher aus den westlichen Sanktionsländern bezog. Auch Hongkong wird immer wieder als Ersatzlieferant genannt. Jedoch sind dessen Exporte nach Russland nach Kriegsbeginn zunächst stark zurückgegangen und haben sich anschließend nur moderat erholt. Bei elektronischen Gütern wie Mobiltelefonen und Computern könnte auch Vietnam eingesprungen sein, das sich zu einem bedeutenden Produktionsstandort für elektronische Konsumgüter entwickelt und ebenfalls keine Sanktionen gegen Russland verhängt hat. Da Vietnam aber noch keine Außenhandelsdaten für 2022 und 2023 publiziert hat, lässt sich dies aktuell nicht überprüfen. Die übrigen Länder Südostasiens können nur in sehr eingeschränktem Maße die durch die Sanktionen entstandenen Lücken füllen. Die Türkei kommt bei technologisch ausgereiften Produkten als Lieferland in Frage, nicht jedoch bei Spitzentechnologien. Zu erwähnen ist noch der Iran, der Drohnen nach Russland liefert. Da auch von dort keine zeitnahen monatlichen Handelsdaten verfügbar sind, lässt sich dies mit ihnen nicht nachprüfen. Es ist jedoch anzunehmen, dass auch der Iran nur bei ausgereiften Technologien als Lieferland für von Sanktionen betroffene Produkte eingesprungen ist.

Bei Lieferungen aus China und anderen nicht sanktionierenden Ländern ist außerdem zu berücksichtigen, dass die fraglichen Produkte oft von multinationalen Unternehmen mit Hauptsitz in den USA, der EU oder anderen Sanktionsländern hergestellt oder in ihrem Auftrag oder mit von ihnen vergebenen Lizenzen produziert werden. Damit unterliegen sie dem Recht ihrer Sitzländer und sind zur Einhaltung der Sanktionsbestimmungen verpflichtet, auch wenn die Produktion in einem Land stattfindet, das keine Sanktionen verhängt hat.

Die dritte Variante ist die Umgehung der Sanktionen durch Bezug sanktionierter Güter über Drittländer. Hierzu eignen sich vor allem die Mitgliedsländer der Eurasischen Wirtschaftsunion, die durch eine Zollunion und offene Wirtwschaftsgrenzen mit Russland verbunden sind (Armenien, Belarus, Kasachstan und Kirgisistan). Lieferungen in diese Länder fallen nicht unter die Sanktionsbestimmungen. Dies ermöglicht es, für russische Abnehmer gedachte Waren über Zwischenhändler in diesen Ländern an die Endkunden in Russland zu liefern.[11] Oftmals werden solche Waren nur pro forma über Russland als Transitland an die Zwischenhändler in Kaukasus- oder zentralasiatische Länder auf den Weg gebracht und gleich in Russland abgefangen. Georgien ist zwar nicht Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion, gilt jedoch wegen seiner geografischen Lage zwischen Russland und Armenien und der komplizierten Situation aufgrund der russischen Besetzung und faktischen wirtschaftlichen Annexion seiner Provinzen Abchasien und Süd-Ossetien ebenfalls als Umgehungsland. Nach Presseberichten sollen auch über die Türkei und die Vereinigten Arabischen Emirate Umgehungslieferungen nach Russland gelangen.[12] Organisiert wird dies vielfach über Zwischenhändler, die zur Tarnung verschachtelte Firmenkonstruktionen mit Sitz in Steueroasen gebildet haben, so dass sich die wahren Akteure nur schwer identifizieren lassen. Oft handelt es sich hierbei um reine Briefkastenfirmen, hinter denen russische Staatsbürger*innnen stehen.

Umweglieferungen bedürfen immer auch der Mitwirkung der Hersteller der sanktionierten Produkte, und sei es nur, dass sie im Falle einer gezielten Täuschung Möglichkeiten der Nachverfolgung und Sanktionierung unterlassen. Es kommt aber auch immer wieder vor, dass Hersteller aus Geschäftsinteresse dabei stillschweigend aktiv mitwirken. Mit dem 10. und 11. Sanktionspaket vom 24. Februar 2023 bzw. 23. Juni 2023 hat die EU gegen die Umgehung der Sanktionsbestimmungen u.a. mit einem Transitverbot für sanktionierte Waren durch Russland in Drittländer, mit Einführung einer verstärkten Sorgfaltspflicht für Unternehmen und verbesserte Kooperation mit den Regierungen der Drittländer reagiert.[13] Da die Umsetzung der Sanktionsmaßnahmen den Mitgliedstaaten obliegt, werden diese jedoch noch nicht immer einheitlich angewandt.

Wenn diese drei Reaktionsmöglichkeiten ausscheiden, bleibt Russland als vierte nur der gänzliche Verzicht auf die von Sanktionen betroffenen Produkte. Genau dies wird durch die Sanktionen angestrebt. Aber auch dies muss noch nicht zwingend einen Schaden für Russland bedeuten, wenn der mit diesen angestrebte Nutzen auch auf andere Weise erreicht werden kann. Wie groß der Schaden für Russland ist, hängt davon ab, welche Bedeutung die betroffenen Produkte für dessen Wirtschaft, insbesondere für die Rüstungsproduktion und für die zur Kriegsführung notwendige Infrastruktur haben und ob sie durch andere, noch verfügbare Produkte substituierbar sind.

Auch auf der Seite der Sanktionsländer gibt es Erfolgsvoraussetzungen. Erfolgversprechend sind Sanktionen vor allem, wenn der Weltmarktanteil der sanktionierenden Länder sehr hoch ist, so dass es für Russland nur wenige alternative Bezugsquellen gibt. Deshalb ist es für einen durchgreifenden Erfolg sehr wichtig, dass sich möglichst viele Länder mit hohen Anteilen am Welthandel an den Sanktionen beteiligen. Die Anzahl von 40 sanktionierenden Ländern mit einem Anteil von etwa 60 % aller weltweiten Exporte und teilweise über 80 % bei Spitzentechnologien ist beachtlich. Die Wirksamkeit ist auch hoch, wenn die Produktion auf nur wenige Unternehmen konzentriert ist, die zugleich ihren Sitz in sanktionierenden Ländern haben, so dass auch Lieferungen aus Nicht-Sanktionsländern nach Russland unterbleiben. Hilfreich ist zudem eine hohe Liefertransparenz, so dass Umweglieferungen erschwert werden. Dies gilt zum Beispiel für Produkte mit hohen Sicherheitsanforderungen, außerdem für sehr teure und voluminöse Produkten wie Flugzeuge, die sich nur schwer verbergen lassen. Wichtig ist, dass die Sanktionsländer die Sanktionsmaßnahmen möglichst einheitlich und konsequent anwenden und Verstöße in allen Ländern gleichmäßig ahnden. 

Die Sanktionen haben außerdem eine zeitliche Dimension. Langlebige Produkte, insbesondere Investitionsgüter, die noch vor Verhängung der Sanktionen angeschafft wurden, sind noch länger nutzbar. Bei ihnen machen sich Sanktionen erst bemerkbar, wenn sie nicht mehr funktionsfähig sind und Ersatzbedarf entsteht, wenn Ersatzteile fehlen, die ebenfalls von den Sanktionen betroffen sind, oder wenn ein Mehrbedarf vorliegt, der nicht mehr gedeckt werden kann. Bei Verbrauchsgütern treten die negativen Wirkungen dagegen schneller ein, sie lassen sich nur bei großen Vorratsbeständen noch etwas hinauszögern. Eine lange Produktlebenszeit und hohe Lagerbestände bewirken, dass die Sanktionseffekte erst nach einiger Zeit spürbar werden. Den gegenteiligen Effekt haben der Aufbau neuer Produktionskapazitäten und die Erschließung neuer Bezugsquellen. Sie bewirken, dass sich die Sanktionseffekte im Laufe der Zeit abschwächen. 

Der empirische Test: Wie haben sich die Exportverbote auf den russischen Außenhandel ausgewirkt?

Die Exportsanktionen gegen Russland haben ihr Ziel erreicht, wenn es von der Lieferung kritischer Güter, die es für seine Kriegsführung benötigt, effektiv so stark abgeschnitten wird, dass es seine Kriegsziele nicht mehr durchsetzen kann. Bei einem Welthandelsanteil der Sanktionsländer von 60 % ist ein vollständiges Abschneiden Russlands von ausländischen Gütern unrealistisch. Da diese aber bei vielen technologieintensiven Produkten gemeinsam eine dominante Weltmarktposition besitzen, ist es bei konsequenter Umsetzung der Sanktionen durchaus möglich, Russland bei vielen Schlüsselprodukten derart starke Lieferengpässe aufzuzwingen, dass seine Fähigkeit zur Kriegsführung nachhaltig beeinträchtigt wird. Dies lässt sich mit den internationalen Handelsdaten überprüfen, die internationale Organisationen auf Basis der Zollangaben regelmäßig zeitnah zusammenstellen. Die nachfolgende Analyse stützt sich auf die Trade Map – Datenbank des International Trade Center (ITC), einer von den UN-Handelsorganisationen UNCTAD und WTO gemeinsam getragenen Organisation.[14] Sie fügt die Handelsdaten der UN-Datenbank Comtrade und nationaler Statistik- und Zollbehörden zu einem sektoral, geografisch und zeitlich tief gegliederten Datennetzwerk der internationalen Handelsbeziehungen zusammen.

Trade Map des International Trade Center ITC

Die Trade Map des ITC veröffentlicht jährliche, quartalsweise und monatliche Außenhandelsdaten für 220 Länder und ca. 5.300 Einzelprodukte in 2-, 4 oder 6-stelliger Gliederung des international standardisierten Warenverzeichnisses der Außenhandelsstatistik (HS – Harmonized System), das auf den Zolltarifnummern basiert. Erfasst werden alle von den nationalen Zollbehörden erfassten grenzüberschreitenden Warenlieferungen. Datenquellen sind die nationalen Statistikämter, Zollbehörden und die UN-Datenbank Comtrade. Das ITC geht von einem Erfassungsgrad von 97 % aller weltweit gehandelten Waren aus. Die kurzfristige Verfügbarkeit und monatliche Veröffentlichungsweise (77 Länder, auf die knapp 2/3 des gesamten Welthandels entfällt, publizieren detaillierte monatliche Handelsdaten spätestens nach vier Monaten, weitere 36 Länder mit einem Anteil am Welthandel von ca. 15 % melden monatliche Daten, allerdings nur im Block für ein zurückliegendes Kalenderjahr) ermöglichen sehr zeitnahe und differenzierte Analysen.

Einzelne, insbesondere von Wirtschaftssanktionen betroffene Länder, verweigern die Übermittlung ihrer Daten. Einige Entwicklungsländer übermitteln nur unvollständige Daten oder liefern mit Zeitverzug. Auch Länder, die als Umschlagplatz für halb- oder illegale Geschäfte genutzt werden, Geldwäsche ermöglichen oder Steuervermeidung oder -hinterziehung unterstützen (ein bedeutendes Beispiel sind die Vereinigten Arabischen Emirate), neigen dazu, ihre Handelsdaten unvollständig zu publizieren oder zu verschleiern. Da alle Warenlieferungen doppelt erfasst werden (als Export des ausführenden und Import des einführenden Landes), ist es jedoch möglich, den Außenhandel nicht meldender Länder über die Spiegeldaten zu erfassen, also die Exporte dieser Länder aus den Importen der Empfängerländer und die Importe aus den Exporten der Lieferländer herzuleiten. Keine Außenhandelsdaten liegen jedoch über den bilateralen Handel zwischen Ländern vor, die beide nicht oder unvollständig berichten, da für sie keine Spiegeldaten berechnet werden können. Eingeschränkt wird die Datenqualität und Interpretierbarkeit außerdem durch:

  • Nichterfassung von an den Zollbehörden vorbei geschleusten Waren (Schmuggel),
  • Einschluss reiner Handelsware, die nur zur Weiterleitung an Drittländer geliefert wird,
  • Änderung von Zielländern nach Verlassen des Ursprungslandes,
  • uneinheitliche Anwendung der Produktklassifikationen und unbeabsichtigte oder gezielte Fehlklassifikationen,
  • in einigen Fällen fehlende Angaben zu Produktklassifikationen bzw. Ursprungs- oder Zielländern.[15]

Russland hat, wie andere Länder mit Wirtschaftssanktionen (dies sind insbesondere Belarus, Nordkorea, Syrien, Venezuela), Anfang 2022 die Publikation seiner Handelsdaten eingestellt. Aktuelle Handelsdaten über Russland für die Zeit seit Kriegsbeginn lassen sich daher nur aus den Spiegeldaten seiner Handelspartner herleiten. Dies stellt ein gewisses Problem für den Handel Russlands mit China als größtem Handelspartner Russlands dar, weil dieses Monatsdaten nur einmal jährlich rückwirkend für das abgelaufene Kalenderjahr meldet. Derzeit liegen chinesische Handelsdaten nur bis Dezember 2022 vor. Wichtige Handelspartner Russlands sind auch die ehemaligen Sowjetrepubliken, mit denen Russland durch die Eurasische Wirtschaftsunion verbunden ist und offene Grenzen besitzt. Von diesen publiziert nur Armenien zeitnah monatliche Handelsdaten, außerdem Georgien, das zwar nicht Mitglied der Eurasischen Wirtschaftsunion ist, aber immer noch intensiven Handel mit Russland treibt.

Dennoch lassen sich die Handelsbeziehungen Russlands auch am aktuellen Rand relativ zuverlässig über die Spiegeldaten abbilden. Die Trade Map – Daten des International Trade Center ermöglichen eine sehr tief gegliederte, fast produktscharfe und länderspezifische Darstellung des russischen Außenhandels in monatlicher Darstellung für die meisten Länder bis weit in das Jahr 2023 hinein. Hieraus lässt sich sehr präzise darstellen, wie sich der Handel mit von Exportsanktionen besonders betroffenen Produkten und Produktgruppen nach Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine entwickelte.

Die mit Exportsanktionen belegten Produkte sind in der einschlägigen EU-Verordnung[16] technisch detailliert spezifiziert worden. Die tiefe Produktgliederung der Trade Map-Daten auf Basis des harmonisierten Systems (HS) der Außenhandelsstatistik ermöglicht eine relativ gute Abgrenzung zwischen sanktionierten und nicht-sanktionierten Produkten und Produktgruppen, bleibt wegen vieler Ausnahmen in den Sanktionsbestimmungen in einigen Fällen allerdings unscharf. Von den Sanktionen ausgenommen sind Agrarprodukte und Nahrungsmittel, Pharmazeutika, Maschinen und Vorprodukte zu deren Erzeugung sowie Medizintechnik. Die sanktionierten Produkte konzentrieren sich auf die HS-Gruppen[17] 84 (Maschinen), 85 (Elektronik), 87 (Straßenfahrzeuge), 88 (Luft- und Raumfahrzeuge), 89 (Schiffe) und 90 (Optik, Mess- und Regeltechnik). Diese stehen im Fokus der weiteren Analyse. Bei Konsumgütern sind nur Luxuswaren von den Sanktionen betroffen.

Abbildung 3 zeigt die Entwicklung der Exporte aller Länder nach Russland (schwarze Linie), die zeitnah monatliche Handelsdaten veröffentlichen, sowie die Exporte der 40 Sanktionsländer (rot), Chinas (blau) und aller übrigen nicht sanktionierenden Länder mit monatlicher Berichtspraxis (grün) von Januar 2021 bis April 2023. Die Importe Russlands werden als Summe aller weltweit berichteten Exporte nach Russland (Spiegeldaten) gemessen, da Russland seit Anfang 2022 keine eigenen Handelsdaten mehr veröffentlicht. Bei 113 Ländern, die monatliche Daten melden und einen Anteil am Welthandel von ca. 83 % aufweisen, kann man von einer guten Abdeckung des russischen Außenhandels durch die Spiegeldaten sprechen. Länder ohne monatliche Meldung von Handelsdaten sind vor allem kleine und unterentwickelte Länder mit geringem Außenhandel. Verzerrungen beschränken sich weitgehend auf agrarische Produkte, Rohstoffe und einfache Konsumgüter, die für die Exportsanktionen weniger bedeutend sind, während die Abdeckung bei den hier interessierenden technologiehaltigen Industrieerzeugnissen insgesamt sehr gut ist. Die Kurven für die Gesamteinfuhren Russlands und die Lieferungen aus China enden im Dezember 2022, weil China für 2023 noch keine Monatswerte veröffentlicht hat und diese einen sehr hohen Anteil an den russischen Einfuhren haben.

Abbildung 3: Monatliche Exporte der Sanktionsländer und sonstiger wichtiger Lieferländer nach Russland in Mio. Euro, Jan 2021 – Apr 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)


Es fällt zunächst auf, dass Russlands Einfuhren im Laufe des Jahres 2021 bis zum Beginn des Krieges kontinuierlich von 13,4 Mrd. Euro im Januar auf 21,4 Mrd. Euro im Dezember 2021 anstiegen. Dahinter könnte sich ein Nachholeffekt nach der Pandemie verbergen. Der Anstieg könnte aber auch als Aufbau von Vorräten in Erwartung von Sanktionen interpretiert werden. Nach Beginn des Kriegs sackten die weltweiten monatlichen Lieferungen nach Russland auf nur noch gut 8 Mrd. Euro im April 2022 ab und stiegen anschließend wieder auf rd. 17 Mrd. Euro. Damit blieben sie aber unter den Spitzenwerten des Vorjahres. Das Wachstum der russischen Importe im Verlauf des Jahres 2021 ist vor allem auf steigende Lieferungen aus China zurückzuführen, während die Lieferungen aus den Sanktionsländern schon vor Beginn des Kriegs bei monatlich rd. 10 Mrd. Euro stagnierten. Die Exporte der Sanktionsländer fielen nach Kriegsbeginn auf 4 Mrd. Euro und erholten sich anschließend nur leicht auf Monatswerte von 5 bis 6 Mrd. Euro. China steigerte seine Lieferungen nach Russland nach einem vorübergehenden Rückgang zu Beginn des Jahres 2022 auf Höchstwerte von ca. 8 Mrd. Euro pro Monat in der zweiten Jahreshälfte 2022. Durch den Krieg gegen die Ukraine und die danach verhängten Sanktionen ist Russland in eine prekäre Abhängigkeit von Einfuhren aus China geraten. Alle übrigen Länder zusammen exportierten nach Russland im Monatsdurchschnitt nur etwa halb so viel wie China und lagen mit ihren Exporten unter dem Wert, um den die Sanktionsländer ihre Lieferungen nach Russland nach Kriegsbeginn verringerten. Das wichtigste Lieferaland nach China, das keine Sanktionen verhängt hat, ist die Türkei mit monatlichen Exporten von zuletzt ca. 1 Mrd. Euro.

Abbildung 4: Exporte von Nicht-Sanktionsländern nach Russland, Jan 2021- Juli 2023, Index (Jan 2021=100)

Quelle: Eigene Berechnung nach Trade Map des International Trade Center (ITC)

Unter den wichtigsten Handelspartnern Russlands, die sich nicht an den Sanktionen beteiligen, steigerte die Türkei ihre Exporte besonders stark. Unmittelbar nach Kriegsbeginn vervierfachten diese sich innerhalb nur eines halben Jahres, während sich die Exporte aus China nach Russland „nur“ verdoppelten. Neben Maschinen und Elektroerzeugnissen trugen vor allem Kunststoffe, chemische Produkte, Stahl- und Metallerzeugnisse, Bekleidung sowie Nahrungsmittel zu diesem Wachstum bei. Auch die Exporte Serbiens nach Russland verdoppelten sich seit 2021, während Indien diese nur moderat steigerte. Hongkong, das vielfach im Verdacht steht, als Drehscheibe für Sanktionsumgehungen zu fungieren,[18] verzeichnete dagegen unmittelbar nach Kriegsbeginn sogar einen starken Rückgang und hob die Ausfuhren nach Russland bis Anfang 2023 auch nur gerade mal wieder auf das Ausgangsniveau von Anfang 2021 an. Hongkong war schon länger vor dem Krieg ein wichtiger Lieferant vor allem von Elektronikprodukten für Russland, nach Beginn des Kriegs hat es seine Lieferungen aber nicht mehr ausgeweitet.

Von den übrigen großen Schwellenländern erhöhte nur Brasilien in nennenswertem Umfang seine Russland-Exporte. Diese bestanden jedoch überwiegend aus Agrarprodukten wie Soja, Fleisch und Zucker und hatten damit keine größere Bedeutung für die russische Kriegsstärke. Südostasiatische Länder wie Thailand und Malaysia verringerten ihre Lieferungen, obwohl sie keine Sanktionsbeschlüsse gegen Russland fassten.

Der Rückgang der Exporte nach Russland aus den Ländern, die sich an den Sanktionen beteiligen, konzentriert sich, wie Abbildung 5 mit einem Vergleich des Jahres 2021 mit dem Zeitraum Mai 2022 bis April 2023 zeigt, auf eine begrenzte Zahl von Produkten und Produktgruppen. Besonders stark fielen sie bei Maschinen (von 25 auf 11 Mrd. Euro), Straßenfahrzeugen und -teilen (von 17 auf 5 Mrd. Euro), Elektrotechnik (von 10 auf 2 Mrd. Euro) und Luft- und Raumfahrzeugen einschließlich Teilen (von 4 auf 0 Mrd. Euro) aus. Die Exporte dieser vier Produktgruppen zusammen genommen sanken von 56 auf 18 Mrd. Euro, also auf nicht mal mehr ein Drittel ihres Niveaus vor dem Krieg. Die von den Sanktionsbestimmungen ausgenommen agrarischen Erzeugnisse und Nahrungsmittel blieben dagegen unverändert, die Arzneimittellieferungen legten sogar von insgesamt 10 Mrd. Euro im Jahr 2021 auf 13 Mrd. spürbar zu. Da die für die Kriegsführung besonders wichtigen Produkte überwiegend in Produktgruppen mit starken Exportrückgängen zu finden sind, zeigt sich als erster Befund, dass die Exportbeschränkungen und -verbote von den westlichen Industrieländern überwiegend eingehalten wurden. Es hat aber immer noch Lieferungen gegeben, die kritisch zu betrachten sind.

Abbildung 5: Russland-Exporte der Sanktionsländer nach Produktgruppen in Mio. Euro, vor und nach Kriegsbeginn

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)


Deutschland war vor und nach Kriegsbeginn unter den westlichen Sanktionsländern größtes Lieferland nach Russland. Mit einem Rückgang um 14 Mrd. Euro erbrachte es aber auch allein ein Viertel des Gesamtrückgangs von 56 Mrd. Euro. Dies entspricht einem Anteil von ca. 1 % der deutschen Gesamtexporte und von 0,4 % des deutschen BIP.  Relativ gesehen besonders stark waren die Rückgänge der Exporte aus den USA, Großbritannien, Tschechien, Finnland und Schweden. Die nach Deutschland wichtigsten Lieferanten Russlands aus der Gruppe der westlichen Industrieländer (Korea, Italien, Polen, Niederlande und Japan) schränkten ihre Lieferungen dagegen weniger stark ein. Vier Länder steigerten sie sogar: die Schweiz, Lettland, Slowenien und Bulgarien.

Abbildung 6: Russland-Exporte der Sanktionsländer in Mio. Euro, vor und nach Kriegsbeginn 

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Die Unterschiede zwischen den Ländern resultieren nicht nur aus einer unterschiedlich strengen Umsetzung der Sanktionsbeschlüsse, sondern auch aus ihrer Exportstruktur. So bestehen die Lieferungen der Schweiz nach Russland zu mehr als der Hälfte aus Pharmazeutika, die von den Sanktionen ausgenommen sind und dadurch steigen konnten. Bei anderen Produkten gingen dagegen auch die Exporte aus der Schweiz zurück. Auch der Anstieg der Lieferungen aus Bulgarien erklärt sich durch einen hohen Anteil pharmazeutischer Produkte. Bemerkenswert ist der Anstieg der Exporte Lettlands nach Russland, wie auch die nur sehr moderaten Rückgänge aus Litauen und Estland, den beiden anderen baltischen Ländern, weil diese stets besonders scharfe Sanktionen gegen Russland fordern. Sie haben sich bei einigen Produkte schon vor längerem zur Drehscheibe für den Handel aus der EU mit Russland entwickelt und diese Rolle auch über den russischen Angriffskrieg auf die Ukraine hinaus beibehalten. So entfällt ein Drittel der Exporte Lettlands nach Russland auf alkoholische Getränke, darunter Wein und Sekt, die wegen offensichtlich laxer Ausfuhrkontrollen bei Luxusgütern von anderen EU-Ländern über Lettland nach Russland vertrieben werden.[19] Auch in Litauen haben sich alkoholische Getränke mit beachtlichem Wachstum an die Spitze der Exportgüter nach Russland gesetzt, gefolgt von Parfümerieartikeln.

Von besonderem Interesse sind die ehemaligen Sowjetrepubliken des Kaukasus und Zentralasiens, die sich wegen ihrer engen wirtschaftlichen Beziehungen zu Russland über die Eurasische Wirtschaftsunion als bevorzugte Drittländer zur Umgehung der Exportsanktionen eignen. Von ihnen veröffentlicht nur Armenien aktuelle monatliche Handelsdaten, außerdem Georgien, das trotz schwieriger politischer Beziehungen wirtschaftlich weiterhin mit Russland eng verflochten ist. Die Entwicklung ihrer Exporte sowie Aserbeidschans, das sowohl politisch wie wirtschaftlich Distanz zu Russland hält, seit Anfang 2021 sind in Abbildung 7 abgebildet. Es zeigt sich, dass Armenien unmittelbar nach Kriegsbeginn seine Lieferungen explosionsartig um das Fünf- bis Siebenfache steigerte. Dieses Wachstum deutet klar auf Umweglieferungen zur Umgehung der Sanktionen hin, denn das kleine Armenien ist nicht in der Lage, innerhalb so kurzer Zeit Waren aus eigener Produktion in diesem Umfang nach Russland zu liefern. Auch die Exporte Aserbeidschans sind gestiegen, aber bei weitem nicht in vergleichbarem Maße, während sich die Lieferungen aus Georgien nicht wesentlich veränderten.

Abbildung 7: Exporte der Länder des Kaukasus nach Russland in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Noch aufschlussreicher für die Frage der Umgehung sind die Lieferungen der Sanktionsländer in die Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion sowie Georgien. Sie sind in Abbildung 8 abgebildet, wegen der ungleichen Ausgangsniveaus als Index mit Januar 2021 = 100. Hier sticht das kleine und arme Kirgisistan mit einer Verzehnfachung innerhalb eines halben Jahres heraus. Es ist undenkbar, dass der Eigenbedarf Kirgisistans diesen Anstieg erklären kann, sondern dieser ist nur als Umweglieferung plausibel. Die Verfünffachung der Exporte nach Armenien entspricht dessen Exportwachstum nach Russland, was ebenfalls als klarer Beleg für Umweglieferungen nach Russland gedeutet werden muss. Die Exporte der Sanktionsländer nach Kasachstan sind fast genauso stark gewachsen, ebenso diejenigen nach Georgien. Offensichtlich werden die über Georgien zur Weiterleitung nach Russland bestimmten Waren an den Zollbehörden vorbei geliefert, möglicherweise über die beiden von Russland besetzten georgischen Provinzen. Die Exporte nach Belarus gingen dagegen zunächst um etwa die Hälfte zurück, weil es wegen seiner Unterstützung Russlands im Krieg gegen die Ukraine selbst mit Sanktionen bedacht wurde. Sie stiegen im Laufe des Jahres 2022 aber wieder auf ein höheres Niveau als im Jahr zuvor.

Abbildung 8: Exporte der Sanktionsländer in die Eurasische Wirtschaftsunion und Georgien, Index (Jan 2021=100), Jan 2021- Juli 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Insgesamt wuchsen die Exporte aller Sanktionsländer zusammengenommen in die fünf Nachbarländer Russlands von 21,8 Mrd. Euro im Jahr 2021 auf 37,6 Mrd. Euro im Zeitraum Mai 2022 bis April 2023. Unterstellt man, dass dieses Wachstum vollständig aus Umweglieferungen nach Russland stammt, dann müssten den russischen Importen knapp 16 Mrd. Euro hinzugerechnet werden, das sind etwa 7-8 % der gesamten russischen Importe. Dies ist keine unbedeutende Größenordnung, sie fällt aber auch nicht so hoch aus, dass der russische Außenhandel dadurch neu interpretiert werden müsste. Der sonderbare Anstieg sowohl der Lieferungen aus den Sanktionsländern in die Nachbarländer Russlands als auch deren Lieferungen nach Russland ist allerdings hinreichender Anlass, diese in die nachfolgende produktscharfe Analyse einzubeziehen.

Ein Zwischenfazit ergibt, dass die Sanktionen nach dem kriegerischen Überfall Russlands auf die Ukraine zu einer augenfälligen Zäsur in dessen außenwirtschaftlichen Beziehungen geführt haben. Die Exporte der Sanktionsländer nach Russland gingen schlagartig zurück und liegen seither unter der Hälfte des Vorkriegsniveaus. China konnte einen Teil dieses Rückgangs ersetzen, benötigte aber mehrere Monate, um wieder sein vorheriges Exportvolumen zu erreichen und zu übertreffen. Nennenswerte Steigerungen der Lieferungen nach Russland sind daneben nur bei der Türkei festzustellen. Außerdem gibt es starke Hinweise auf Sanktionsumgehungen über die Nachbarländer Russlands, die mit ihm in der Eurasischen Wirtschaftsunion verbunden sind. Diese können aber die verminderten Lieferungen aus den Sanktionsländern nur in Grenzen kompensieren. Russland wird wirtschaftlich immer abhängiger vom großen Nachbarn China.

Ob die Sanktionen aber die Fähigkeit Russlands zur Kriegsführung nachhaltig schwächen konnten, ist nur durch detaillierte Analyse der Veränderungen in den russischen Handelsbeziehungen bei kriegswichtigen Produkten überprüfbar.

Lieferembargo bei kriegswichtigen Gütern: Erfolg oder Misserfolg?

Für den Erfolg der Sanktionen kommt es entscheidend darauf an, ob Russland nach Kriegsbeginn noch Zugang zu Produkten hatte, die es für die Herstellung seiner Rüstungsgüter und für die Aufrechterhaltung der zur Kriegführung wichtigen Infrastruktur benötigt und nicht selbst herstellen kann. Zu diesen Produkten zählen vor allem hochwertige Elektronik, Maschinen für die Herstellung von Panzern und Raketen sowie Flugzeuge und Transportfahrzeuge, die die militärische Logistik unterstützen. Rüstungsgüter im engeren Sinn erhält Russland schon länger nicht mehr aus dem westlichen Ausland. Diese muss es weitgehend selbst produzieren, sieht man von den Drohnen ab, die es aus dem Iran bezieht, und von der Munition, die es zuletzt in Nordkorea bestellt hat.

Auch wenn China und andere Länder ihre Lieferungen nach Russland insgesamt gesteigert haben, so nützt dies der russischen Kriegsführung nur, wenn diese die von Sanktionen betroffenen Güter in einer Menge und Qualität anbieten, dass Engpässe in den genannten Produktgruppen vermieden werden. Durch den hohen Verbrauch an Kriegsmaterial ist hierbei überdies ein Mehrbedarf entstanden, der zusätzliche Produktionskapazitäten und Lieferungen von Vorprodukten und Maschinen aus China und anderen befreundeten Ländern notwendig macht.

Hierzu werden die Veränderungen bei den Lieferungen nach Russland für ausgewählte kriegswichtige Produkte und Produktgruppen im Detail analysiert. Wie schon bei der vorherigen Analyse werden die Lieferungen aus der ganzen Welt nach Russland auf Monatsbasis seit Januar 2021 (wiederum nur für Länder, die Monatsdaten berichten) verwendet. Ein Erfolg der Sanktionen kann immer dann angenommen werden, wenn erstens die sanktionierenden Länder ihre Lieferungen nach Russland nach Kriegsbeginn ganz oder überwiegend einstellten und wenn zweitens andere Länder die dadurch entstandene Versorgungslücke nicht oder nicht vollständig schließen konnten. In den nachfolgenden Abbildungen sind die russischen Importe, ausgedrückt als Summe der Exporte aller Länder (Spiegeldaten) mit monatlichen Veröffentlichungen, durch eine schwarze Linie dargestellt, die Lieferungen der 40 Länder mit Sanktionsbeschlüssen durch eine rote, die Lieferungen aus China durch eine blaue und diejenigen aus sonstigen Ländern ohne Sanktionen durch eine grüne Linie.

Abbildung 9: Exporte von Luft- und Raumfahrzeugen, Flugzeugantrieben nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)


Bei Luft- und Raumfahrzeugen einschließlich Flugzeugantrieben und dazugehörigen Ersatz- und Zulieferteilen haben die Sanktionen die wahrscheinlich klarste Wirkung erzielt. Vor Kriegsbeginn importierte Russland monatlich Flugzeuge und Flugzeugteile im Wert von ca. einer halben Mrd. Euro. Diese stammten, wie das weitgehende Zusammenfallen der schwarzen Linie für die russischen Importe mit der roten für die Lieferungen aus den Sanktionsländern bis zum Kriegsbeginn zeigt, fast ausschließlich aus Ländern, die Sanktionen verhängt haben. Diese haben ihre Exporte komplett eingestellt und kein anderes Land hat ersatzweise liefern können. Russland erhält seit Kriegsbeginn so gut wie keine Luft- und Raumfahrzeuge und Ersatzteile mehr aus dem Ausland, was sich in der Abbildung darin zeigt, dass die schwarze und die rote Linie seit Kriegsbeginn nahe bei null liegen.

Zwar besitzt Russland auch eine eigene Luft- und Raumfahrtindustrie zur Ausrüstung seiner Luftwaffe und des russischen Raumfahrtprogramms. Aber fast die gesamte zivile Luftfahrtflotte Russlands besteht aus Maschinen von Boeing und Airbus, für die es Ersatzteile aus dem Westen benötigt. Noch zu Sowjetzeiten stellte Russland Passagierflugzeuge auch selbst her und vor einigen Jahren hat es einen Anlauf unternommen, die Produktion wieder aufzunehmen, jedoch mit Zulieferteilen aus dem Westen, so dass diese Planungen hinfällig geworden sind. China strebt zwar den Bau von Passagierflugzeugen an, ist aber noch nicht so weit, dass es die europäischen und amerikanischen Maschinen schon ersetzen kann.

Abbildung 9 dürfte den Lieferausfall bei Passagierflugzeugen noch unterschätzen, weil geleaste Flugzeuge darin nicht enthalten sind und eine größere Zahl von diesen bereits im Ausland wegen Kündigung der Leasingverträge beschlagnahmt wurde.[20] Nicht berücksichtigt sind jedoch Drohnen aus dem Iran, die in den internationalen Handelsdaten nicht enthalten sind, weil dieser wie auch Russland keine aktuellen monatlichen Zahlen veröffentlicht.

Solange Russland noch über eine hinreichend große Menge an Flugzeugen verfügt, die bei guter Wartung eine Lebensdauer von 30 Jahren und mehr haben können, kann es den Verzicht auf den Kauf neuer Maschinen verkraften. Engpässe machen sich jedoch sehr schnell bei Ersatzteilen bemerkbar, die für die Sicherheit essenziell sind, sich wegen ihrer technischen Komplexität aber nur schwer kopieren lassen. Zur Deckung des Ersatzteilbedarfs schlachtet Russland inzwischen stillgelegte Maschinen aus. Die Verletzung von Sicherheitsbestimmungen macht das Anfliegen ausländischer Ziele schwierig bis unmöglich. Nach Presseberichten lässt Russland inzwischen auch Flugzeuge im Iran warten, der aufgrund eigener Sanktionserfahrungen mit behelfsmäßigen Reparaturen vertraut ist.[21]

Der Ausfall an Flugzeuglieferungen und vor allem fehlenden Ersatzteile bringen die russische Luftfahrt in ernste Bedrängnis. Russland ist als größtes Flächenland der Welt wie kaum ein anderes Land auf den Luftverkehr angewiesen, auch für die militärische Logistik. Die Sicherheitsmängel werden zunehmen, die einsatzfähige Flugzeugflotte wird sich verkleinern, so dass es nur eine Frage der Zeit ist, bis sich die Lieferengpässe in ernsthaften Schwierigkeiten niederschlagen.

Luft- und Raumfahrzeuge sind ein Lehrbuchbeispiel für die Wirksamkeit der Sanktionen. Der Markt wird von wenigen großen Herstellern dominiert, die in westlichen Ländern ihren Sitz haben. Es herrscht große Markttransparenz. Russland allein ist wirtschaftlich nicht stark genug und verfügt nicht über die Economies of Scale für eine eigene Flugzeugindustrie. Die Sanktionen benötigen jedoch einige Zeit, um ihre volle Wirksamkeit zu entfalten.

Abbildung 10: Exporte von Integrierten Schaltkreisen und sonstigen Halbleiterbauelementen nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Integrierte Schaltkreise sind unverzichtbare Bauelemente für die Rüstungsproduktion. Von ihrer Qualität hängen die Treffgenauigkeit, Leistungsfähigkeit und Zuverlässigkeit von Raketen und anderen Waffensystemen ab, sie können über Kriege entscheiden. Daher ist es nur folgerichtig, dass Integrierte Schaltkreise und sonstige Halbleiter als Dual Use-Güter von den Sanktionen erfasst werden. Untersuchungen von auf die Ukraine abgeschossenen Raketen und Drohnen haben gezeigt, dass diese in erheblichem Ausmaß Halbleiter westlicher Hersteller beinhalten.[22] Dies besagt erstens, dass Russland für seine Rüstungsproduktion auf Halbleiter aus westlicher Produktion angewiesen ist und zweitens, dass es Wege geben muss, über die diese nach Russland gelangen können. Bei den technischen Untersuchungen der abgeschossenen Waffen konnte das Alter der Halbleiter meistens nicht geklärt werden, so dass die gefundenen Halbleiter schon vor Verhängung der Sanktionen nach Russland geliefert worden sein können. Bemerkenswert ist in diesem Zusammenhang, dass die Lieferungen vor allem hochwertiger Halbleiter Ende 2021 in die Höhe schnellten (siehe Abbildung 10), so dass man vermuten kann, dass Russland vor Kriegsbeginn in Erwartung verschärfter Sanktionen noch schnell größere Vorräte angelegt hat.

Mit einem Anteil von ca. 1 % an den weltweiten Einfuhren Integrierter Schaltkreisen ist Russland kein besonders bedeutender Importeur, da es vergleichsweise wenige Elektronik- und sonstige Industrieprodukte mit hohem Halbleiteranteil herstellt. Die russische Rüstungsproduktion ist jedoch essenziell auf sie angewiesen und wird durch den Lieferboykott hart getroffen. Vor Kriegsbeginn importierte Russland drei Viertel seiner Halbleiter aus den Sanktionsländern, vor allem aus den Niederlanden, Tschechien, Deutschland, Südkorea, den USA und Singapur. Mit Verhängung der Sanktion stellten diese ihre Lieferungen fast vollständig ein. Als einziges Land ohne Sanktionsbeschluss belieferte auch Hongkong in größerem Umfang Russland mit Integrierten Schaltkreisen, stellte die Lieferungen bei Kriegsbeginn jedoch ebenfalls zunächst fast vollständig ein und nahm sie erst in zweiten Jahreshälfte 2022 wieder auf, ohne aber die Liefermengen auszuweiten. China hatte lange Zeit nur einen geringen Anteil an den russischen Importen, steigerte die Lieferungen jedoch erheblich bis Ende 2022.

In der Halbleitertechnologie hat China bisher im Unterschied zu anderen Hochtechnologiesektoren noch nicht den Anschluss an die weltweit führenden Produzenten gefunden. Die in China hergestellten Integrierten Schaltkreise stammen zu einem großen Teil aus Produktionsstätten amerikanischer, koreanischer, taiwanesischer und japanischer Hersteller, für die auch die Sanktionsbestimmungen gelten. Die chinesischen Hersteller produzieren vielfach mit deren Lizenzen oder in ihrem Auftrag und sind dadurch ebenfalls an die Sanktionsbestimmungen gebunden. Es bleiben die selbst entwickelten Halbleiter chinesischer Hersteller, deren Leistungsfähigkeit jedoch deutlich hinter denen der führenden westlichen Unternehmen zurückbleibt. Hier wirkt sich aus, was Chris Miller in seinem viel beachteten Buch über die globale Halbleiterindustrie beschreibt:[23] Die rasante Entwicklung der Halbleiter mit einer Verdopplung der Leistung alle ein bis zwei Jahre nach dem Moore‘schen Gesetz führt dazu, dass nur eine kleine Zahl von Produzenten in der Weltspitze mithalten kann. Diese wiederum spezialisieren sich wegen der extrem hohen Entwicklungs- und Produktionskosten zunehmend entweder auf das Chipdesign oder auf die Fertigung, so dass selbst Intel als weltgrößter integrierter Chiphersteller Mühe hat, in diesem Wettbewerb mitzuhalten. Weitere Voraussetzung für eine Spitzenposition ist der Zugang zu den weltweit leistungsfähigsten Maschinen zur Halbleiterfertigung, die ebenfalls den Sanktionen unterliegen. Bei diesen besitzt das niederländische Unternehmen ASML ein faktisches Monopol und sie werden auch nicht an chinesische Unternehmen verkauft. Selbst wenn also Russland zuletzt vermehrt Mikrochips aus China erhalten hat, so muss man doch annehmen, dass diese keinen vollwertigen Ersatz für Halbleiter aus westlicher Produktion darstellen.

Ob der Anstieg der Lieferungen von Integrierten Schaltkreisen aus China Ende 2022 nur ein einmaliger Effekt war oder das Ende des sanktionsbedingten Lieferausfalls anzeigt, lässt sich noch nicht endgültig beurteilen. Es ist aber bemerkenswert, dass der Rückgang der Lieferung hochwertiger Integrierter Schaltkreise der Produktgruppe HS 8542 nach Kriegsbeginn stärker ausfiel und länger anhielt als bei einfachen Halbleiterbauelementen wie Transistoren und LED’s (HS 8541). Bei diesen hatte Russland schon vor Kriegsbeginn die Hälfte seines Importbedarfs aus China gedeckt. Da China bei ihnen immer voll lieferfähig war, verfehlen die Sanktionen der westlichen Industrieländer hier im Unterschied zu den hochwertigen Integrierten Schaltkreisen ihre Wirkung. Bei Letzteren tritt nach Aufbrauchen der Vorräte durch das Exportembargo ein Versorgungsmangel in Russland ein oder ist schon eingetreten, der durch Lieferungen aus Hongkong und China nicht voll beseitigt werden kann. Wie der Titel des Buches von Chris Miller schon nahelegt, ist die Verfügbarkeit der leistungsfähigsten Chips zu einem vergleichbar wichtigen Faktor für politische und militärische Stärke wie der Rohstoff Öl geworden. Russland hat hierbei das Nachsehen gegenüber den westlichen Ländern und leidet an den Sanktionen.

Halbleiter stehen auch im Mittelpunkt der Berichte über Umweglieferungen über die benachbarten Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion. Die gestrichelten schwarzen Linien in Abbildung 10 geben an, über welche Liefermengen Russland verfügt, wenn die gegenüber 2021 gestiegenen Exporte der Sanktionsländer in die Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion nur verkappte Lieferungen mit Russland als Ziel sind und das Angebot in Russland entsprechend ausweiten. Bei Integrierten Schaltkreisen und sonstigen Halbleiterbauelementen hat dies nur einen sehr geringen Effekt.

Der Anteil geschmuggelter Ware ist bei Halbleitern wegen ihrer geringen Größe und ihres niedrigen Gewicht wahrscheinlich höher als bei großvolumigen Gütern. Ein Bericht der Financial Times beschreibt illegale Handelswege von Halbleitern aus Frankreich und Irland unter Umgehung der Zollkontrollen über Serbien, die Vereinigten Arabischen Emirate und China nach Russland, die von russischen Tarnfirmen aufgebaut wurden.[24] Aber auch diese in den Handelsstatistiken nicht enthaltenen Lieferungen können den Mangel Russlands bei hochwertigen Halbleitern mengenmäßig nur in sehr begrenztem Maße kompensieren.

Abbildung 11: Exporte von Mobiltelefonen und Telekommunikationstechnik nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Wie schon bei einfachen Halbleiterbauelementen besitzen die westlichen Industrieländer auch bei Mobiltelefonen nur wenig Möglichkeiten, durch Sanktionen Druck auf Russland auszuüben, weil es diese schon vor Kriegsbeginn ganz überwiegend aus China und Hongkong bezog. Nach einem bemerkenswerten Höhenflug gegen Ende des Jahres 2021 gingen die Lieferungen zwar in den Wochen des Kriegsbeginns stark zurück, erholten sich aber wieder sehr schnell und stabilisierten sich Ende 2022 auf dem Vorkriegsniveau. Der Durchhänger dürfte auf westliche Handy-Produzenten wie Apple und Samsung zurückzuführen sein, die den russischen Markt von China aus bedienten und ihre Lieferungen nach Kriegsbeginn komplett einstellten. Ihre Marktanteile übernahmen originär chinesische Hersteller, die aber einige Wochen für den Aufbau einer Vertriebs- und Logistikinfrastruktur benötigten. Neben China ist auch Hongkong ein wichtiger Handy-Lieferant für Russland, setzte aber vorübergehend die Lieferungen aus und hat bis heute nicht wieder das Vorkriegsniveau erreicht. Ein bedeutender Lieferant von Handys für Russland ist außerdem Vietnam, für das aber keine aktuellen monatlichen Außenhandelsdaten vorliegen.

Ein wenig anders als bei Handys ist die Situation bei der militärisch bedeutenden Telekommunikations- und Netzwerktechnik. Hier fand nach einem kontinuierlichen Anstieg der russischen Importe im Jahr 2021 ein starker Einbruch auf nur noch ein Sechstel des Vorjahresniveaus im Frühsommer 2022 statt. Während die Exporte aus China weitgehend stabil geblieben waren, stellten die Sanktionsländer und Hongkong, die vor dem Krieg noch zusammen etwa zwei Drittel der russischen Importe ausmachten, ihre Lieferungen nach Russland ganz ein. China konnte diesen Ausfall bisher nicht ersetzen, so dass Russland empfindliche Engpässe erleidet. Noch lässt sich nicht abschätzen, ob China später einmal diese Lücke wird füllen können. Bei der Telekommunikationstechnik und in schwächerem Maße auch bei Handys dürfte es zu Umgehungslieferungen über benachbarte ehemalige Sowjetrepubliken gekommen sein, die aber den Wegfall der Lieferungen aus Sanktionsländern nur in Grenzen kompensieren können.

Abbildung 12: Exporte von Computern und Computerteilen nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Bei Computern ist eine ähnliche Situation wie bei Telekommunikationsgeräten zu sehen. Die Lieferung von Massenprodukten wie Laptops und Tablets hat sich nach einem dramatischen Einbruch um den Zeitpunkt des Kriegsbeginns wieder schnell erholt. Laptops und Tablets bezieht Russland fast ausschließlich aus China, in geringem Umfang auch aus Vietnam. Der Westen besitzt bei ihnen kaum Möglichkeiten, Russland durch Sanktionen zu schädigen.

Bei Großrechnern und Servern sowie Computerteilen stellt sich die Situation etwas anders dar. Diese bezog Russland vor dem Krieg etwa zur Hälfte aus Ländern, die Sanktionen verhängt haben, vor allem aus Polen, Tschechien, Taiwan und den Niederlanden. Sie stellten die Lieferungen nach Russland fast komplett ein. Dafür stiegen die Lieferungen aus China, Hongkong und bei Computerteilen auch aus der Türkei, so dass der Rückgang aufgrund der Sanktionen zumindest bei Computerteilen und Ein- und Ausgabegeräten fast ausgeglichen wurde. Nur bei der komplexeren Großrechner- und Servertechnologie klafft weiterhin eine Lücke. Bei Computern und Computerteilen scheint es ebenfalls zu einem Umgehungshandel über die ehemaligen Sowjetrepubliken im Kaukasus und Zentralasien in moderatem Umfang gekommen zu sein.

Im Bereich der Computertechnologie konnten die westlichen Industrieländer Russland also nur bei Servern und Großrechnern durch einen Lieferstopp in begrenztem Maße Schaden zufügen. Geht man jedoch von einem Mehrbedarf für die Kriegswirtschaft aus, bleibt auch hier eine Lücke, die Russland bisher nicht schließen konnte.

Abbildung 13: Exporte von Radar- und Navigationssystemen, Kompassen und chemisch-physikalischen Analyseinstrumenten nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Eine Produktgruppe, die für die Wirksamkeit der Sanktionen von nicht geringer Bedeutung ist, wegen ihres niedriges Marktvolumens aber oft unterschätzt oder übersehen wird, sind Instrumente der Mess- und Regeltechnik. Hier werden drei Beispiele aus dieser heterogenen Gruppe herausgegriffen, die für die Kriegsführung von Bedeutung sind: Radar- und Navigationssysteme, Kompasse und chemisch-physikalische Analyseinstrumente. Die ersten beiden unterstützen die Steuerung von Raketen, des Luftverkehrs und die Raumerkundung, chemisch-physikalische Analyseinstrumente werden unter anderem bei der Entwicklung von Munition benötigt.

Bei Kompassen ist eine ähnlich durchgreifende Wirkung der Sanktionen wie bei Luft- und Raumfahrzeugen festzustellen. Vor Kriegsbeginn bezog Russland diese fast ausschließlich aus Sanktionsländern, vor allem aus Frankreich und Deutschland. Seit Beginn des Kriegs muss Russland auf solche Geräte komplett verzichten oder ist auf Eigenproduktion angewiesen. Hier kann man also von einer hohen Wirksamkeit der Sanktionen sprechen.

Bei Radarsystemen und Funkfernsteuergeräten ist die Situation ein wenig anders. Zwar wurden die Lieferungen aus den Sanktionsländern vollständig heruntergefahren, aber dafür sprang China ein, ohne jedoch die weggefallenen Lieferungen ganz zu ersetzen. Auch lässt sich schwer beurteilen, ob die chinesischen Produkte eine vergleichbare Qualität besitzen.

Bei den chemisch-physikalischen Analyseinstrumenten, dies sind unter anderem Mikrotome und Spektrometer, ist festzustellen, dass es trotz Sanktionen weiterhin Lieferungen aus westlichen Industrieländern nach Russland gibt, wenn auch auf niedrigerem Niveau als vor dem Krieg. Diese kamen vor allem aus Deutschland, den Niederlanden, Polen, Italien und Finnland. Auch wenn solche Produkte für zivile wissenschaftlich-technische Zwecke verwendet werden, so ist die Nutzung für die Rüstungsproduktion nicht auszuschließen. Daher besteht hier Bedarf zur Nachschärfung der Sanktionsbestimmungen. In dieser Produktgruppe ist es außerdem zu einem starken Anstieg der Lieferungen in die Länder des Kaukasus und Zentralasiens gekommen, was die Vermutung bestärkt, dass es sich hierbei tatsächlich um militärisch relevante Produkte handelt, deren Lieferwege verschleiert werden sollen.

Abbildung 14: Exporte von Werkzeugmaschinen und -teilen nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Werkzeugmaschinen sind von zentraler Bedeutung für die Herstellung von Panzern und Raketen, so dass sie folgerichtig von den Sanktionsbeschlüssen erfasst sind. Russland hat seine jährliche Panzerproduktion nach Presseberichten verdoppelt und die Herstellung von Raketen und Kampfflugzeugen erheblich ausgeweitet.[25] Das erzeugt einen hohen Mehrbedarf an Werkzeugmaschinen, sie sind ein vulnerables Produkt der russischen Kriegswirtschaft. Vor Kriegsbeginn stammten drei Viertel aller von Russland importierten Werkzeugmaschinen aus Sanktionsländern, der größte Teil davon aus Deutschland. Bei Zuliefer- und Ersatzteilen lag ihr Anteil noch höher. Im Unterschied zu anderen sanktionierten Produktgruppen gingen die Lieferungen aus den Sanktionsländern nach Russland jedoch nur moderat zurück, bei Ersatzteilen aber stärker als bei neuen Maschinen.

Zur Deckung seines Mehrbedarfs vervielfachte Russland die Werkzeugmaschinenimporte aus China und der Türkei. Dadurch konnten die russischen Importe seit Kriegsbeginn bis Ende 2022 kontinuierlich ansteigen und erreichten Ende 2022 etwa das doppelte Volumen im Vergleich zum Durchschnitt des Jahres 2021. Dazu trugen auch fortwährende Lieferungen in erheblichem Umfang aus den Sanktionsländern bei, vor allem aus Taiwan, Südkorea und Italien, die ihre Lieferungen so gut wie gar nicht einschränkten. Deutschland hat seine Exporte von Werkzeugmaschinen dagegen stark reduziert, wenn auch nicht ganz eingestellt.

Schaden für die russische Wirtschaft entsteht durch einen Lieferstopp für Werkzeugmaschinen eher mittel- bis langfristig, da diese sehr langlebige Investitionsgüter sind und weil China und die Türkei den Bedarf Russlands teilweise decken können. Allerdings können fehlende Ersatzteile zu Produktionsstillständen im bestehenden Maschinenpark führen. Bei diesen greifen die Sanktionen deutlich schneller als bei neuen Maschinen. Deshalb ist ein konsequentes Exportverbot bei ihnen noch wichtiger als bei neuen Ausrüstungen. Abgesehen von einer einmalig höheren Lieferung aus Deutschland im Juni 2022, die noch auf einem vor Kriegsbeginn abgeschlossenen Altvertrag beruhen kann, werden die Sanktionen bei Ersatzteilen inzwischen auch weitegehend eingehalten.

Die Sanktionsbestimmungen bei Werkzeugmaschinen sind zumindest in der EU hinreichend streng und eindeutig gefasst, allerdings hapert es in einigen Ländern offenbar bei der Durchsetzung. In Südkorea und Taiwan könnte das Weiterlaufen der Exporte auch an weniger eindeutigen Gesetzen liegen. Dies sollte Anlass für eine bessere internationale Abstimmung der Sanktionen sein. Werkzeugmaschinen haben ein Potenzial zur Schädigung der russischen Rüstungsindustrie, das noch nicht voll ausgeschöpft wird.

Abbildung 15: Exporte von Lagern und Getrieben nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Bei Lagern und Getrieben stellt sich die Situation ähnlich wie bei den Werkzeugmaschinen dar. Diese sind wichtige Bauteile für Panzer, Fahrzeuge und Maschinen und daher ebenfalls von den Sanktionsbestimmungen erfasst. Bei beiden Produktgruppen gingen die Lieferungen aus den Sanktionsländern nach Kriegsbeginn auch stark zurück, jedoch nicht auf null. Vor allem bei Zahnrädern und Getrieben fanden weiterhin nicht unbeträchtliche Exporte nach Russland statt, vor allem aus Deutschland, Japan, Italien und Österreich. China konnte seine Exporte von Zahnrädern und Getrieben nach Russland nur begrenzt ausweiten, außerdem kamen höhere Lieferungen aus der Türkei hinzu. Die russischen Importe lagen auch Ende 2022 noch deutlich unter dem Niveau von 2021. Eine konsequente Einhaltung der Sanktionen hätte den Engpass jedoch verstärkt.

Bei Wälzlagern kann Russland außer China auf weitere Lieferanten zurückgreifen, die Exporte nach Russland neu aufgenommen oder stark ausgeweitet haben. Zeitweise größter Lieferant war Malaysia, aber auch die Türkei und Indien haben deutlich mehr nach Russland geliefert. Hinzu kommen Umgehungslieferungen über die Länder des Kaukasus und Zentralasiens. Bei derart vielen Lieferanten gestalten sich Sanktionsmaßnahmen schwieriger, dennoch sollte auf sie nicht verzichtet werden.

Abbildung 16: Exporte von Lastkraftwagen und Sattelschleppern nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Lastkraftwagen sind für die militärische Logistik von zentraler Bedeutung. Diese bezog Russland, soweit es sie nicht selbst herstellt, vor dem Krieg ganz überwiegend aus Sanktionsländern, vor allem aus Japan, Polen, den USA und Deutschland. Sie stellten ihre Lieferungen nach Kriegsbeginn fast komplett ein. Dafür schnellten die Lieferungen aus China in die Höhe. Von dort bezieht Russland inzwischen fast alle Lastkraftwagen, Umweglieferungen über die Länder des Kaukasus und Zentralasiens kommen hinzu. Mehr noch: China war aus dem Stand heraus in der Lage, nicht nur die durch Sanktionen weggefallenen Lieferungen zu ersetzen, sondern auch noch einen erheblichen Mehrbedarf Russlands zu befriedigen.

Lastkraftwagen und Sattelschlepper sind demnach kriegswichtige Produkte, bei denen die verhängten Sanktionen streng eingehalten wurden, ohne aber Russland großen Schaden zufügen zu können, weil China den Wegfall überkompensierte.

Abbildung 17: Exporte von Personenkraftwagen und Fahrzeugteilen und -motoren nach Russland, in Mio. Euro, Jan 2021 – April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Auf dem PKW-Markt hat der Krieg einige sehr eigentümliche Veränderungen bewirkt, die vielfach zu missverständlichen Deutungen führen. Der Export von PKW wird durch die Sanktionsbeschlüsse nicht generell verboten, sondern diese dürfen nur nicht mehr nach Russland verkauft werden, wenn sie einen Wert von über 50.000 Euro haben und damit als Luxusgut gelten. Da aber sämtliche westliche Automobilproduzenten ihre russischen Produktionsstandorte stilllgelegt und ihr dortiges Vertriebs- und Servicenetz eingestellt haben, sind kaum noch Neuwagen westlicher Markenhersteller auf dem russischen Markt erhältlich. In Russland produzieren nur noch einheimische Unternehmen technisch veraltete Modelle (zum Beispiel ohne ABS und Airbags), weil sie die hochwertigen Zulieferteile nicht mehr aus dem Westen erhalten und auch nicht selbst produzieren können. Die russische Automobilproduktion ist auf nur noch 30 % ihres Vorkriegsniveaus geschrumpft. Dies ist auch in den russischen Importzahlen für Kfz-Teile und -Motoren erkennbar, die auf nur noch ein Drittel ihres Vorkriegsniveaus gesunken sind.

Der russische Automobilmarkt war damit auf doppelte Weise von den Sanktionen betroffen: vom Wegbrechen der einheimischen Produktion und vom fast vollständigen Ausfall der Importe. Dies hatte drei unterschiedliche Reaktionen zur Folge. Am wenigsten überrascht, dass erstens chinesische Automobilhersteller mit der Belieferung des russischen Marktes begannen. Vor dem Krieg waren sie dort noch kaum vertreten waren. Sie benötigten einen Vorlauf von etwa einem halben Jahr, um Vertrieb und Logistik aufzubauen. Außerdem reicht ihr Angebot noch bei weitem nicht aus, um den Wegfall der europäischen, amerikanischen, japanischen und koreanischen Marken vollständig zu ersetzen und es fehlt noch ein leistungsfähiges Servicenetz.

Tabelle 1: Exporte von neuen und gebrauchten PKWs (HS 8703) aus Sanktionsländern nach Russland, Belarus, Armenien, Georgien, Kasachstan und Kirgisistan in Mrd. Euro, 2021 und Mai 2022 bis April 2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Daher kam es zweitens zu einem lebhaften Aufschwung bei Gebrauchtwagenlieferungen aus westlichen Ländern nach Russland. Wie Abbildung 17 zeigt, stiegen die Kfz-Lieferungen aus den Sanktionsländern im Herbst 2022 wieder spürbar an, wenn auch bei weitem nicht auf das Vorkriegsniveau. In Tabelle 1 wird erkennbar, dass diese Lieferungen aus den Sanktionsländern jedoch ganz überwiegend aus gebrauchten Fahrzeugen bestanden, die vor dem Krieg noch keine große Bedeutung hatten. Die Trade Map-Außenhandelsdaten ermöglichen für die meisten Länder eine Differenzierung zwischen neuen und gebrauchten Fahrzeugen. Von den PKW-Lieferungen in Höhe von 3,5 Mrd. Euro, die Russland im ersten Jahr nach Kriegsbeginn (Mai 2022 bis April 2023) aus den Sanktionsländern erhielt, stammt über die Hälfte (2,1 Mrd. Euro) aus Japan. Davon waren wiederum mehr als 95 % Gebrauchtwagen. Weitere gut 800 Mio. Euro machten Lieferungen aus Südkorea aus, das allerdings in seinen Außenhandelsdaten nicht zwischen neuen und gebrauchten Fahrzeugen unterscheidet. Für rd. 400 Mio. Euro wurden Fahrzeuge aus Deutschland geliefert, die zu über 90 % Gebrauchtfahrzeuge waren.

Eng verknüpft mit dem Entstehen dieses neuartigen Gebrauchtwagenhandels nach Russland ist der Umweghandel über die Mitgliedstaaten der Eurasischen Wirtschaftsunion und Georgien als dritte Reaktionsvariante nach dem Zusammenbruch der Kfz-Exporte nach Russland. Wie Abbildung 18 zeigt, sind die Lieferungen aus den Sanktionsländern in alle genannten fünf Nachbarländer Russlands nach Kriegsbeginn schlagartig um ein Vielfaches in die Höhe geschossen. Den größten Anteil daran haben Kasachstan, Belarus und Georgien, aber die Wachstumsraten fallen bei Armenien und Kirgisistan aufgrund einer sehr niedrigen Ausgangsbasis noch höher aus.

Abbildung 18: PKW-Exporte der Sanktionsländer in Länder des Kaukasus und Zentralasiens in Mio. Euro, 01/2021 – 04/2023

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Ein solches Wachstum kann nicht durch eine gestiegene heimische Nachfrage erklärt werden. Auch der Zeitpunkt des Anstiegs wenige Wochen nach Kriegsbeginn macht hinreichend klar, dass diese Lieferungen nur für den russischen Markt bestimmt sein konnten. Tabelle 1 zeigt, dass die Lieferkanäle dabei sehr unterschiedlich sind und dass über sie nicht nur gebrauchte, sondern auch Neufahrzeuge gehandelt werden. Bemerkenswert ist, dass Belarus hierbei eine prominente Rolle einnimmt, obwohl es als Verbündeter Russlands selbst mit Sanktionen belegt ist. Noch bemerkenswerter ist, dass dessen unmittelbare EU-Nachbarn Litauen und Polen in großem Umfang Fahrzeuge nach Belarus liefern und die Mengen nach Kriegsbeginn deutlich steigerten, obwohl sie zu ihrem Nachbarn in besonders inniger Abneigung stehen. Litauen, ohne eigene Automobilindustrie, liefert unter den EU-Staaten nach Deutschland die meisten Fahrzeuge nach Belarus, Kasachstan und Kirgisistan. Es hat sich offensichtlich als bedeutende Drehscheibe für den Handel von Gebrauchtwagen, teilweise auch von neuen Fahrzeugen, nach Osteuropa entwickelt. In Litauen ansässige Händler kaufen gebrauchte Fahrzeuge in anderen europäischen Ländern auf und liefern sie vornehmlich über Belarus, zuletzt auch über Kasachstan und Kirgisistan und kleinem Umfang auch direkt nach Russland. Etwas abgeschwächt ist dies auch in Polen zu beobachten. Deutsche Händler liefern neben Belarus auch über Kasachstan, Kirgisistan, Georgien und Armenien, darunter auch relativ viele Neuwagen, die so indirekt einen Weg nach Russland finden.

Es ist denkbar, dass diese Länder gegenüber den Zollbehörden nur zum Schein als Ziel angegeben werden. Sind sie einmal in einem Mitgliedsland der Eurasischen Wirtschaftsunion angekommen, können sie über die offene Grenze nach Russland weitergeliefert werden. Möglich ist auch, dass Fahrzeuge mit dem Ziel Kasachstan oder Kirgisistan physisch erst gar nicht dorthin gelangen, sondern bei dem notwendigen Transit durch Russland gleich dort verbleiben. Es wäre sehr ineffizient, sie zum Beispiel von Vilnius in die kirgisische Hauptstadt Bischkek (Entfernung: 4.600 km) und dann wieder zurück nach Moskau (3.700 km) zu transportieren, wo doch Moskau auf dem Weg nach Bischkek liegt und nur 900 km von Vilnius entfernt ist.

Auch aus außereuropäischen Ländern hat sich ein Umweghandel mit vornehmlich gebrauchten Fahrzeugen über die Länder des Kaukasus und Zentralasiens nach Russland entwickelt. Während Japan Gebrauchtwagen direkt nach Russland liefert, ist dessen Export von Neuwagen nach Kasachstan und Georgien stark angewachsen. Es ist davon auszugehen, dass auch diese für russische Endkunden bestimmt sind. Südkorea liefert vor allem über Kasachstan und Kirgisistan, wobei sich bei dessen Exporten keine Unterscheidung zwischen neuen und gebrauchten Fahrzeugen vornehmen lässt. Auch aus den USA gelangen Gebrauchtwagen in großem Umfang indirekt nach Russland, und zwar vor allem über Georgien, kleinere Mengen auch über Armenien.

Abbildung 19: PKW-Exporte nach Russland, die übrigen Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion und Georgien in Mio. Euro, vor und nach Kriegsbeginn

Quelle: Trade Map des International Trade Center (ITC)

Abbildung 19 veranschaulicht, wie die Umweglieferungen von Kfz über die Mitgliedsländer der Eurasischen Wirtschaftsunion und Georgien nach Russland nach Kriegsbeginn die direkten Lieferungen nach Russland ersetzten. Japan blieb größter Kfz-Exporteur nach Russland, lieferte aber fast nur noch gebrauchte Fahrzeuge. China steigerte seine Exporte und wurde zum zweitwichtigsten Lieferanten. Alle übrigen Länder reduzireten ihre Exporte drastisch oder stellten sie ganz ein. Bei den Umweglieferungen über die Länder der Eurasischen Wirtschaftsunion liegt Deutschland als Herkunftsland an der Spitze, gefolgt mit nur knappem Abstand von Südkorea und den USA. Sehr deutlich zeigt sich hier auch die große Bedeutung Litauens als Umschlagplatz für den Kfz-Handel mit diesen Ländern und auch die wachsende Bedeutung Polens, das vor dem Krieg so gut wie keine Kfz in diese Länder geliefert hatte.

Ob die Umweglieferungen längerfristig Bestand haben, ist noch nicht abzusehen. Nach einem vorläufigen Höhepunkt Ende 2022 sind sie im Laufe des Jahres 2023 wieder leicht gesunken. Das muss aber noch keine Trendumkehr bedeuten, denn die hohen Werte Ende 2022 sind auch durch Nachholeffekte aus der ersten Jahreshälfte erklärbar, als der Kfz-Markt in Russland weitgehend zusammengebrochen war.

Die Umweglieferungen von PKWs über die Kaukasus- und zentralasiatischen Länder dienen verschiedenen Beobachtern als Beleg für ihre Auffassung, die gegen Russland verhängten Exportsanktionen seien gescheitert. Vor allem deutschen Herstellern wird vorgeworfen, sie würden aus geschäftlichen Interessen vorsätzlich die Sanktionsbestimmungen unterlaufen.[26] Die Dominanz von Gebrauchtwagen im Umweghandel mit Russland und die dargestellten Lieferkanäle zeigen jedoch, dass diese Vorwürfe schwer haltbar sind. Vielmehr dürfte eine Gruppe gut vernetzter, aber bisher wenig bekannter Unternehmer*innen aus Russland und/oder dessen Nachbarländern die Sanktionen zum Anlass für ein lukratives neues Geschäftsmodell genommen haben. Darüber hinaus darf man fragen, ob die Umgehung von Sanktionen bei Kraftfahrzeugen überhaupt größere Auswirkungen auf die russische Kriegsführung haben. PKW besitzen nur eine geringe militärische Bedeutung und sind daher nicht kriegsentscheidend. Eine stärkere Verknappung privater PKW würde die russische Bevölkerung in der Breite treffen und sie die Sanktionen spüren lassen, ohne humanitäre Probleme herbeizuführen. Wenn damit der Widerstand gegen den Krieg verstärkt würde, wäre dies positiv zu sehen. Aber dies ist nicht gesichert.

Für die Beurteilung der Wirksamkeit der Exportsanktionen sind die Umgehungslieferungen bei Fahrzeugen jedoch nicht maßgeblich. Hierfür sind die für die Rüstungsproduktion und die militärische Infrastruktur notwendigen Produkte wie Halbleiter und sonstige Elektronik, Luft- und Raumfahrzeuge, Werkzeugmaschinen und Lastkraftwagen viel wichtiger. Die öffentliche Debatte über PKW-Lieferungen nach Russland macht vor allem deutlich, dass die strategische Zielsetzung für die beschlossenen Sanktionen nicht immer klar ist. Wenn es nur darum geht, Luxusgüter vom russischen Markt fernzuhalten, dann bieten die Lieferungen von Gebrauchtwagen wenig Anlass zu Besorgnis. Wenn es aber Ziel ist, die Mobilität der gesamten russischen Gesellschaft zu beeinträchtigen, dann müssten auch die Gebrauchtwagenlieferungen nach Russland direkt oder über dessen Nachbarländer konsequent unterbunden werden, zum Beispiel durch Verhängung von Sekundärsanktionen gegen alle Beteiligte an diesem Handel. Dies sollte dann auch für Fahrzeuge chinesischer Hersteller gelten, die in erheblichem Umfang Zulieferteile aus den Sanktionsländern enthalten. Wegen der globalen Lieferketten und dem hohen Wertschöpfungsanteil westlicher Länder an allen weltweit produzierten Fahrzeugen bietet die Automobilproduktion grundsätzlich ein erhebliches Potenzial, um einem Land durch Exportsanktionen großen Schaden zuzufügen.[27]

Ohne Einbindung in die globalen Wertschöpfungsketten ist weder Russland, noch irgendein anderes Land in der Lage, eine technologisch und wirtschaftlich wettbewerbsfähige Automobilproduktion aufzubauen. Die von Russland betriebene Lokalisierungspolitik ist in keiner Branche so klar zum Scheitern verurteilt wie in der Automobilindustrie. Ohne technologisch hochwertige und preiswerte Fahrzeuge kommt die verkehrliche Mobilität eines Landes zum Erliegen und wirft es wirtschaftlich um Jahre zurück. Wenn die Wirtschaft Russlands als Ganze getroffen werden soll, ohne gleich humanitäre Katastrophen auszulösen, dann stellt die Automobilindustrie ein lohnendes Ziel dar.

Welche Schlussfolgerung legen diese Befunde nahe?

Eine erste Schlussfolgerung ist, dass die gegen Russland verhängten Exportsanktionen durchaus Wirkung zeigen, aber noch verbesserungsfähig sind. Russland wird durch die Verweigerung von Hochtechnologie aus westlicher Produktion sehr geschwächt. Durch den eingetretenen Mangel an Halbleitern, Flugzeugen, Radargeräten und hochwertiger Computer- und Telekommunikationstechnologie verfügt es nicht über die modernsten Waffensysteme und die Logistik leidet. Diese Schwächung Russlands könnte jedoch nur temporär sein, wenn es China gelingt, diese Produkte in gleicher Qualität und in der nötigen Menge zu liefern.

Die Sanktionen wirken am besten, wenn sie an den wirtschaftlichen Schwächen Russlands ansetzen und nicht an dessen Stärken. Etwa ein Zehntel des weltweiten Ölhandels entfällt auf Russland, ebenso hoch ist seine globale Bedeutung bei anderen Rohstoffen. Solange kein anderes Land bereit und in der Lage ist, die von Russland gelieferten Mengen zu ersetzen, wird es Abnehmer für seine Rohstoffe finden und hohe Exporterlöse erzielen, von wem auch immer. Es ist daher illusorisch, Russland durch Beschneidung seiner Zahlungsfähigkeit schwächen zu wollen. Russland kann sich alle auf dem Weltmarkt verfügbaren kriegswichtigen Produkte leisten, wenn sie denn verfügbar sind. Die Importsanktionen werden daher deutlich überschätzt. Aber Russland kann man hart treffen, indem man es durch Exportverbote von Hochtechnologieprodukten abschneidet, die es weder selbst herstellen, noch von befreundeten Partnern beziehen kann. Damit soll aber die hohe politisch-symbolische Bedeutung des Importstopps von Öl und Gas aus Russland nicht angezweifelt werden.

Die Exportsanktionen könnten in einigen Bereichen noch größere Wirkung erzielen, wenn die gesetzlichen Bestimmungen präziser gefasst und wenn sie vor allem überall konsequent und einheitlich durchgesetzt würden. Dies gilt zum Beispiel für Werkzeugmaschinen und Maschinenteile wie Kupplungen, Lager und Getriebe, aber auch für chemisch-physikalische Analyseinstrumente und generell für Mess- und Regeltechnik, auf die Russland essenziell angewiesen ist. Diese gelangen noch in zu großen Mengen auch aus Ländern nach Russland, die sich an den Sanktionen beteiligen, vor allem aus Südkorea und Taiwan, teilweise auch aus Japan, Italien und Deutschland. Notwendig erscheint daher eine verbesserte internationale Koordination und eine erhöhte Sanktionsdisziplin.

Bei elektronischen Massenprodukten wie Handys und Laptops und bei Investitionsgütern wie Lastkraftwagen, bei denen China technologisch voll wettbewerbsfähig ist, kann man Russland dagegen mit Exportverboten keinen Schaden zufügen. China leistet bei diesen Produkten vollwertigen Ersatz, so dass Exportsanktionen ins Leere laufen. Auch Exportverbote von Luxusgütern wie Champagner und Parfümerieartikeln haben nicht viel mehr als symbolische Bedeutung.

Wenn das Ziel der Sanktionen darin liegt, die russische Kriegswirtschaft zu schwächen, dann kann man die Kfz-Exporte, die auf Umwegen über Belarus, Kaukasus-Länder oder zentralasiatische Republiken nach Russland gelangen, gelassen sehen. Von ihnen profitiert die russische Bevölkerung in ihrer Breite, außerdem eine kleine Gruppe von Geschäftsleuten, die an diesem Handel gut verdienen, nicht jedoch die politische und militärische Führung und die Oligarchen. Anders wäre es, wenn der Westen seine Strategie ändern würde und die Effizienz und Leistungsfähigkeit der russischen Wirtschaft insgesamt nachhaltig schwächen wollte. Dafür wäre das komplette Abschneiden Russlands von Fahrzeuglieferungen aus dem Westen ein geeignetes Mittel.  

Zwei Drittel des Umweghandels über die Kaukasus- und die zentralasiatischen Republiken nach Russland entfällt auf Fahrzeuge und auf elektronische Massenprodukte. Es ist offensichtlich, dass es auch bei technologisch hochwertigen Produkten, auf die die russische Kriegswirtschaft angewiesen ist, zu Umweglieferungen über diese Länder kommt. Aber ihre mengenmäßige Bedeutung wird stark relativiert, wenn man Fahrzeuge, Handys und Laptops herausrechnet. Gleichwohl sind die Bemühungen der EU wichtig, gemeinsam mit den Regierungen dieser Länder gegen die Umgehung von Sanktionen bei sensiblen Produkten vorzugehen und diese bei fehlender Kooperationsbereitschaft notfalls auch selbst in die Sanktionen einzubeziehen. Ähnlich sollten die Lieferungen von Konsumgütern wie alkoholische Getränke und Kosmetika über Zwischenhändler in den baltischen Staaten nach Russland bewertet werden. Hierdurch wird das Exportverbot von Luxusgütern unterlaufen, aber die Folgen für die russische Kriegsführungsfähigkeit sind nur gering.

Die mit großem Abstand wichtigste Stütze Russlands bei der Vermeidung negativer Folgen der Sanktionen ist China. Ohne den starken Anstieg von Lieferungen aus China in der ganzen Bandbreite von Industrieprodukten wären große Teile der russischen Wirtschaft nach Verhängung der Sanktionen bei Kriegsbeginn wahrscheinlich zusammengebrochen. Es ist zu erwarten, dass die Zahl der Produkte, bei denen China für Ersatz sorgen kann, nach und nach steigt, und dass hierdurch die Wirksamkeit der Sanktionen abgeschwächt wird. Russland ist damit jedoch in eine schicksalhafte wirtschaftliche Abhängigkeit von China geraten, die immer mehr auch zu einer politischen Abhängigkeit wird. Dies bedeutet zugleich, dass es China in der Hand hätte, Russland zur Beendigung des Krieges zu zwingen, wenn es dies wollte. Allein schon zu diesem Zweck erscheint es ratsam, dass die EU und die USA trotz der aktuellen Spannungen mit China im Dialog bleiben.

China steht aber auch beispielhaft für die Bedeutung der multinationalen Unternehmen bei der Durchsetzung der Sanktionen. Für viele überraschend sind die Exporte aus China und vor allem aus Hongkong nach Russland bei einigen Produkten nicht gestiegen, sondern im Gleichklang mit den Exporten der Länder, die Sanktionen vehängt haben, gesunken. In diesen Fällen stammen die Lieferungen aus chinesischen Produktionsstandorten amerikanischer, europäischer, japanischer oder koreanischer Unternehmen, die sich an den Sanktionen beteiligen, oder sie sind mit deren Lizenzen oder Zulieferteilen gefertigt worden. Hierbei erweisen sich die in den vergangenen Jahren entstandenen globalen Lieferketten als nützlich. Nach wie vor ist westliche Technologie in fast allen hochwertigen Produkten enthalten, so dass sich Sanktionen weit über die eigenen Exporte der sanktionierenden Länder ausdehnen lassen.

Sonstige Länder ohne Sanktionsbeschlüsse können Russland dagegen nur in wenigen Fällen Kompensation leisten. Am wichtigsten ist hierbei noch die Türkei, die aber nur technologisch ausgereifte Produkte liefert, die auch Russland selbst herstellen kann. Dies gilt auch für den Iran. Aufmerksamkeit verdienen die Vereinigten Arabischen Emirate, die sich zunehmend zu einem sehr intransparenten Marktplatz für den Schwarzhandel entwickelt haben. Da sich auch Oligarchen und andere wohlhabende Russen nach Einschränkung ihrer Reisefreiheit in der EU bevorzugt dort mit erstem oder zweitem Wohnsitz niedergelassen haben, würde es nicht überraschen, wenn künftig vermehrt dunkle Geschäfte zur Umgehung der Sanktionen über die Emirate laufen würden.

Sollte der Krieg noch längere Zeit fortdauern, weil weder die Ukraine noch Russland entscheidende Gewinne erzielen, liegt es nahe, über eine Ausweitung der Exportverbote nachzudenken, die nicht nur auf die russische Rüstungsindustrie abzielen, sondern die Leistungsfähigkeit der russischen Industrie insgesamt schwächen. Dem könnte als erster Schritt ein umfassendes und wirksames Totalverbot von Fahrzeuglieferungen nach Russland, auch mittelbar über Drittländer, dienen. Man könnte aber auch als weitere Eskalationsstufe anstelle der jetzigen Negativliste mit Gütern, die nicht mehr nach Russland geliefert werden dürfen, ein generelles Exportverbot verhängen, eingeschränkt durch eine Positivliste mit Gütern, die aus humanitären Gründen weiter nach Russland geliefert werden dürfen. Dies würde die Beweislast umkehren und viele Umgehungsmöglichkeiten beseitigen.

Eine zentrale Erkenntnis dieser Analyse ist, dass eine hohe Wirksamkeit von Sanktionen nur durch eine klar definierte Strategie und deren konsequente, international abgestimmte Umsetzung zu erzielen ist.


[1] International Monetary Fund (2023): World Economic Outlook. October 2023.

[2] Bachmann, Rüdiger, David Baqaee, Christian Bayer, Moritz Kuhn, Andreas Löschel, Benjamin Moll, Andreas Peischl, Karen Pittel, Moritz Schularick (2022): What if? The economic effects for Germany of a stop of energy imports from Russia. ECONtribute Policy Brief 28/2022.

[3] Zum Beispiel IMK (2022): Ukraine-Krieg erschwert Erholung nach Pandemie. IMK Report Nr. 174. Krebs, Tom (2022): Auswirkungen eines Erdgasembargos auf die gesamtwirtschaftliche Produktion in Deutschland. IMK Study Nr. 79, Mai 2022. Prognos AG (2022): Folgen einer Lieferunterbrechung für die deutsche Industrie. Juni 2022.

[4] Moll, Benjamin, Moritz Schularick, Georg Zachmann (2023): The Power of Substitution: The Great German Gas Debate in Retrospect. Brookings Papers on Economic Activity. September 2023.

[5] Russland hatte den Kunden seiner Gasunternehmen Ende März 2022 auferlegt, die Rechnungen in Rubel zu begleichen, was jedoch mit Sanktionsbedingungen der EU kollidierte. Russland strebte damit eine Stabilisierung des Rubel-Kurses an. Letztlich ist es hierfür aber nicht erheblich, wer den Umtausch vornimmt.

[6] International Monetary Fund (2023): World Economic Outlook. October 2023.

[7] International Monetary Fund (2023): Balance of Payments and International Investment Statistics (BOP/IIP). https://data.imf.org/regular.aspx?key=62805740

[8] Ebenda.

[9] International Monetary Fund (2023): World Economic Outlook Database. https://www.imf.org/en/Publications/WEO/weo-database/2023/October

[10] Nicholas Mulder hat diese Faktoren jüngst in einer umfassenden wirtschaftshistorischen Analyse der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verhängten Sanktionen sehr anschaulich analysiert, u.a. die Seeblockaden gegen Deutschland und gegen das Osmanische Reich im 1. Weltkrieg und diverse mehr oder weniger erfolgreiche Sanktionen und Sanktionsversuche in den 1920er und 1930er Jahren auf dem Balkan sowie gegen Italien (wegen der kolonialen Besatzung Äthiopiens) und gegen Japan (wegen seiner Aggressionen auf dem chinesischen Festland). Nicholas Mulder (2022): The Economic Weapon. The Rise of Sanctions as a Tool of Modern War. New Haven, London 2022.

[11] Siehe dazu auch Chupilkin, Maxim, Beata Javorcik and Alexander Plekhanov (2023): The Eurasian Roundabout. Trade Flows into Russia through the Caucasus and Central Asia. European Bank for Reconstruction and Development, London, February 2023.

[12] Zum Beispiel „Tödliche Grüße aus dem Westen“, Süddeutsche Zeitung, 20. September 2023.

[13] Verordnung (EU) 2023/426 des Rates vom 25. Februar 2023 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 269/2014 über restriktive Maßnahmen angesichts von Handlungen, die die territoriale Unversehrtheit, Souveränität und Unabhängigkeit der Ukraine untergraben oder bedrohen; Verordnung (EU) 2023/1214 des Rates vom 23. Juni 2023 zur Änderung der Verordnung (EU) Nr. 833/2014 des Rates über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren.

[14] https://www.trademap.org/Index.aspx

Eine detaillierte Darstellung des Datenangebots von Trade Map enthält International Trade Center (2014): Trade Map User Guide. Trade Statistics for International Business Development. Geneva, November 2014.

[15] Siehe International Trade Center (2014): Trade Map User Guide. Trade Statistics for International Business Development. Geneva, November 2014, S. 109ff.

[16] VERORDNUNG (EU) Nr. 833/2014 DES RATES vom 31. Juli 2014 (*) über restriktive Maßnahmen angesichts der Handlungen Russlands, die die Lage in der Ukraine destabilisieren, zuletzt geändert durch die VERORDNUNG (EU) 2023/1214 DES RATES vom 23. Juni 2023

[17] HS: Harmonized System. Vgl. International Trade Center (2014): Trade Map User Guide. Trade Statistics for International Business Development. Geneva, November 2014.
https://www.trademap.org/Docs/TradeMap-Userguide-EN.pdf
Statistisches Bundesamt (2023): Warenverzeichnis für die Außenhandelsstatistik, Wiesbaden 2023.
https://www.destatis.de/DE/Methoden/Klassifikationen/Aussenhandel/Downloads/WA2023-3200300-23700-4.pdf?__blob=publicationFile

[18] Kot, Brian Chun Hey (2023): Hong Kong’s Technology Lifeline to Russia. Carnegie Endowment for International Peace. May 17, 2023; Nikkei Asia (2023), Special Report: How U.S. made chips are flowing into Russia. April 21, 2023.
Nikkei Asia (2023), Special Report: How U.S. made chips are flowing into Russia. April 21, 2023.
https://carnegieendowment.org/2023/05/17/hong-kong-s-technology-lifeline-to-russia-pub-89775
https://asia.nikkei.com/Business/Business-Spotlight/How-business-friendly-Hong-Kong-became-a-hub-of-Russian-chip-trade

[19] „European Wine Exports to Russia Grow“, Wine-Searcher, 13-Feb-2023.
https://www.wine-searcher.com/m/2023/02/european-wine-exports-to-russia-grow#:~:text=According%20to%20the%20European%20Commission,%E2%82%AC89m%20during%20November%202021.

[20] „Wartung und drohende Enteignung – die Russland-Sorgen der Leasinggeber“, airliners.de, 16. März 2022.
https://www.airliners.de/wartung-drohende-enteignung-russland-sorgen-leasinggeber/64125

[21] „How Russia is evading sanctions to keep $10 billion worth of seized Boeing and Airbus planes flying“, Business Insider, July 31, 2023.
https://www.businessinsider.com/how-russia-keeping-western-built-airbus-boeing-planes-flying-sanctions-2023-7

[22] Byrne, James, Gary Summerville, Jack Watling, Nick Reynolds, Jane Baker (2022): Silicon Lifeline. Western Electronics at the Heart of Russia’s War Machine, RUSI August 2022.

[23] Miller, Chris (2022): Chip War. The Fight for the World’s Most Critical Technology. London et al. 2022.

[24] „The Shadowy Network Smuggling European Microchips into Russia“, Financial Times, 12.11.2023.

[25] „Russland baut immer mehr Panzer“, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 30.09.2023.
https://www.faz.net/aktuell/politik/ausland/russland-baut-immer-mehr-panzer-raketenproduktion-hat-sich-verdoppelt-19210742.html

[26] So hat Robin Brooks, Chefökonom des International Institute of Finance IIF, einem in Washington ansässigen Dachinstitut der Finanzwirtschaft, auf X (vormals Twitter) mehrmals heftige, teils emotional geführte Debatten über die steil angestiegenen Exporte vor allem aus Deutschland und anderen europäischen Ländern nach Kirgisistan angestoßen, die ihn und andere, oft schlecht informierte Kommentatoren zu der Schlussfolgerung verleiteten, dies belege die Energie der deutschen Unternehmen bei der gezielten Umgehung der gegen Russland verhängten Sanktionen aus geschäftlichen Interessen.
https://twitter.com/RobinBrooksIIF/status/1704521368501379158

[27] Dies wird zum Beispiel diskutiert in Vakhtang Partzvania (2023): „Time Bomb: How Sanctions Are Draining the Russian Automotive Industry“, Riddle, 13. Oktober 2023.
https://ridl.io/time-bomb-how-sanctions-are-draining-the-russian-automotive-industry/

© Herbert Jakoby

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